Der Kurfürstendamm, er war ein individueller Boulevard. Sein Gesicht prägten Geschäfte, die die Persönlichkeit ihrer Inhaber widerspiegelten. Zwischen den Tante-Emma-Läden im Kiez und den noblen Adressen auf dem Kurfürstendamm gab es eine Gemeinsamkeit: die Eigenart, nicht zu verwechseln, nicht auszutauschen.
Schon in den Schaufenstern stellten sie sich aus. Nicht nur Auslagen wurden gezeigt, Dekorationen wurden präsentiert. Die Ware war ein Gegenstand, der auch bildende Künstler zu Bildern reizte. Der Bildhauer Rudolf Belling, heute eine Museumsgröße und hochbezahlt auf internationalen Auktionen, war einer von denen, die am Kurfürstendamm ans Werk gingen. Geschäftsleute wollten nicht nur verkaufen. Sie besaßen Kunstsinn, und den wollten sie ansprechen. Auf dem Kurfürstendamm wurde ein Mehrwert geboten. Und auch die, für die die Preise im Modehaus Horn an der Ecke zur Meinekestraße außer Reichweite waren, sie redeten über ihre Lust am Schauen. Dekoration als Stadtgespräch.
Der individuelle Kurfürstendamm aber verschwindet - der Tod macht Kasse. Kettenläden umfassen Berlin, ziehen sich um den Globus. Das Besondere geht im Allgemeinen unter und mit ihm der Kunde im Meer der Konsumenten. Ob in Berlin, in Mailand, Paris oder New York: dieselben Firmen, die gleichen Waren. Das Austauschbare ist an die Stelle des Unverwechselbaren getreten. Das Mitbringsel, nebenan ist es greifbar.
Heinrich Dietel war unverwechselbar. Er war ein Herr und verkaufte Artikel für Herren - für solche also, die mehr sein wollten als Männer, offerierte er in seinem Geschäft zwischen Schlüter- und Wielandstraße. Heinrich Dietel, groß gewachsen, stets mit Weste, die dem Bauch zur Ansehnlichkeit verhalf, mit einer Nelke im Revers, die, darunter verborgen, in einem kleinen, mit Wasser gefüllten Röhrchen steckte, dieser Heinrich Dietel bediente nicht, er empfing in seinem Salon Partner. Die taxierte er nicht nach der Brieftasche. Stil zu bilden, das freute ihn, und dafür gab er das Beispiel. Es ging nicht nur um das Bedecken von Blößen, es ging um Wohlgefallen, um Ästhetik, für sich und die anderen, von den Handschuhen, über Hemden, Krawatten, Mützen bis zu Pfeifen. England at its best in Berlin.
Die Tradition wurde unter Dietels Namen unter seinem Nachfolger Hollain an der Schlüterstraße fortgeführt. Nach seinem Tod wollte Dietel keiner mehr haben. Wem steht der Sinn noch nach einem Spazierstock, der ein elegantes Accessoire und keine von der Krankenkasse bezahlte Gehhilfe ist? Wer noch ist auf ein Beinkleid aus in einer Zeit, die Bequemlichkeit mit Nachlässigkeit übersetzt, weshalb der Berliner folgerichtig jedweden Anzug als «Klamotte» identifiziert? Dietel, ein Nachruf unter vielen für ein Stück des alten Berlin. Individuelles wird zu Grabe getragen. Unsere Zeit: Sie versteht Veränderung schon als Fortschritt.
Ich gehe über den Kurfürstendamm. Und ich erinnere mich an die Besucher, die zurückkamen aus Ost-Berlin, aus der DDR. Wie sie sich mokierten: Schrecklich, alle in den gleichen Schuhen, alle in den gleichen Jacken und Mänteln, Mützen und Taschen, alles gleich, schrecklich. Ich schaue auf die Leute um mich herum. Und mich befällt ein Alptraum. Eines Tages werde ich nur noch auf Uniformierte im real existierenden Kapitalismus treffen. Die Fantasie stirbt an der Norm. Wo ist Dietel?