Erst langsam, dann schneller, schließlich rapide: Um mich herum hat sich die Stadt geleert. Nun gehört sie allein mir. Es wird mir zwar gesagt, bei der diesjährigen Weltmeisterschaft im Verreisen sei der deutsche Mensch nicht mehr von dem Ehrgeiz getrieben, dieselbe, wie stets, zu gewinnen, weil er den Teuro zweimal umdrehe, bevor er sein Ränzel schnüre. Die Berliner aber verhalten sich anti-zyklisch. Welche Fülle in der Armut! Ballermann, wir kommen! Und so einen wirds ja wohl auch an türkischen oder bulgarischen Gestaden geben.
Die Berliner Ost und die Berliner West, von denen behauptet wird, dass zwischen ihnen eine Kluft klaffe, weil die einen immer noch hartnäckig an ihrer «Kaufhalle» festhalten, während die anderen ihren «Supermarkt» dagegen stellen, als Verreiser sind sie schon immer ein Herz und eine Seele. Denn ummauert waren sie ja beide.
Für die einen zog sich die Einsperrung allerdings gleich vom Thüringer Wald bis zur Ostsee und bis in den Himmel. Sie konnten nicht, wohin sie wollten. Fernweh war nicht zu stillen. Deshalb war das Heimweh selten. Da waren die anderen besser dran. Sie konnten. Der Beton war zu durchfahren und zu überfliegen war er auch. «Ich müsste mal raus!», sagten die einen. Und mussten bleiben. «Ich muss mal raus!», sagten die anderen. Und weg waren sie. Diese Sehnsucht ist, wie jeder Umstand, der lange währt, in Fleisch und Blut übergegangen. Deshalb wird er auch vererbt. Der Globalisierer ist Berliner.
Bei allen Erklärungen, allem Verständnis, ich bleibe dabei: Dem Sommer in Berlin den Rücken zu kehren, das ist für mich wie in der Pause aufs Klo. Leute fragen: Wohin in den Urlaub? Antworte ich: nirgendwohin, bin ich für das Gegenüber ein Nichtberliner. Mancher möchte mich trotzdem auf den Weg bringen, er überschüttet mich mit Adressen: Da müssen Sie hin! Ich muss nicht, weil ich nicht will. Mir gefällt die Rolle des fröhlichen Hinterbliebenen.
Ich sehe auf Balkonen Menschen, die vorsichtig an Geranien zupfen und voller Bedacht aus Kännchen gießen und die, an ihrem Anzug schon als Fremde erkennbar, ihrer Verpflichtung zu akkurater Pflege in Abwesenheit nachkommen. Ich bedaure die Armen hinter der Brüstung. Denn ich weiß, solche Freundschaftsdienste können der Endpunkt einer Freundschaft sein. Geranien können nämlich übel nehmen. Wie Fische. Die schwimmen dann tot im Aquarium. Oder Wellensittiche. Ein leerer Käfig als schreiende Anklage. Ich bin nicht bereit, die Lücke zu füllen für Liebhaber der Blumen, des Getiers aller Art. Oder vor einem Picasso Wache zu schieben. Deshalb gelte ich als nicht sehr hilfsbereit. Das nehme ich hin. Denn ich bin ja auf Urlaub.
Langsam vergesse ich die Tonleitern unter mir. Die singt der Sänger jetzt in Dänemark. Der Weckruf «Udo», mit dem die Frau Gemahlin nebenan den Herrn Gatten und mich gleichzeitig aus den Federn scheucht, ist verstummt. Ich verlasse die Matratze je nach Wohlgefallen. In Restaurants, die im Zeichen des Teuro nicht mehr überquellen, bin ich für Köche und Kellner eine willkommene Abwechslung in einer endlos langen Weile. Ich kriege den Grappa schon vor dem Bestellen. Der Pflicht, in Amtsstuben anzurufen, bin ich enthoben. Der Kollege kommt nicht gleich, er kommt gar nicht, denn er ist nicht da. Das Unerledigte, das sich in der Stadt sowieso häuft, häuft sich noch ein bisschen mehr.
Aller Mühsal ledig, froh und frei, bin ich unterwegs. Im Tegeler Forst gefällt mir der Gedanke, dass Tegel mehr ist als nur eine Abflugstelle für Sammeltransporte. Eines Tages aber werden sie wieder da sein, vermehrt, nicht geballt, weil in Berlin die Urlaubszeit, anders als andernorts, nie anfängt und deshalb auch nie endet. Und sie werden mir erzählen von fremden Ufern. Und sie werden mir ihre Filme darüber vorführen. Ich aber werde ihn verschweigen, meinen Gewinn durch stetig abnehmende Lust auf fremder Leute Betten. Sie könnten sonst neidisch werden. Und hier bleiben.