Nach 40 Jahren trifft das Opfer auf die Täter

| Lesedauer: 2 Minuten
Michael Mielke

Der Kronzeuge kommt um neun: Wilfried Tews. Heute 54 Jahre alt. Vor fast genau 40 Jahren wurde er von DDR-Grenzposten fast zu Tode geschossen, als er durch den Spandauer Schifffahrtskanal vom Bezirk Mitte in Richtung Tiergarten floh.

Drei dieser Grenzpolizisten stehen nun wegen versuchten Totschlages vor Gericht. Aber nur einem von ihnen ist anzumerken, dass er so etwa wie Reue oder zumindest Mitleid mit dem Opfer empfindet, das hier nun Zeuge ist. Die anderen beiden blicken ohne jede Anteilnahme auf den vorzeitig gealterten, scheu wirkenden Mann. «Lasst mich doch in Ruhe», ruft Tews, als ihn zwei Kamerateams bis zum Saal 700 des Moabiter Justizpalastes verfolgen. Die linke Schulter hängt tief herunter. Er hat einen auffälligen, torkelnden Gang. Die Füße stecken in orthopädisch angepassten, klobigen weißen Schuhen.

Später wird er vor Gericht erzählen, dass er immer noch Schmerzen empfindet. Und er wird ohne zu überlegen jede der sieben Einschussstellen zeigen können: Die Schulter wurde zerschmettert, ebenso Ober- und Unterschenkel. Ein Projektil bohrte sich in die Lunge. Die Erregung überwältigt ihn und lässt seine Stimme in Tränen ersticken, als er davon erzählt, wie er in panischer Angst den Kanal in Richtung der rettenden Treppe auf Tiergartener Seite durchquerte: «Ich bin getaucht, und dann bekam ich den Lungenschuss und konnte nicht mehr tauchen.» Anschließend habe er hilflos auf der Treppe gelegen, und immer noch wurde geschossen «wie in einem Westernfilm». Und er wurde nochmals getroffen, bevor ihn ein Helfer nach oben zog.

Wilfried Tews war damals aus Erfurt nach Ost-Berlin gekommen. «Ich war nie angepasst», sagt er. «Hab' nicht eingesehen, dass ich Flugblätter für Pioniertreffen verteilen sollte.» So wurde es nichts mit der Erweiterten Oberschule. Und ohne die gabs kein Abitur. Da wollte er fliehen. «Ich hab' mir einen Stadtplan gekauft», erzählt Tews, «und geguckt, wo die Grenze ist.» Dort sei alles sehr schnell gegangen. Jemand habe «Halt!» geschrieen, und er war «wie in einem Reflex» über die Mauer geklettert. Es fiel ihm leicht. Er war zwar erst 14, aber schon 1,80 Meter groß.

Nach den Schüssen lag Tews, der jetzt als Heilpraktiker in Flensburg lebt, sieben Monate im Moabiter Krankenhaus; danach folgten vier Monate in der Rehabilitation. Er ist jetzt weitaus kleiner als 1,80 Meter. «Ist nichts mehr mit Walzer tanzen», sagt er und versucht zu lächeln. Es misslingt.