Großer Bahnhof für die alte Lok

| Lesedauer: 3 Minuten
Kai Ritzmann

Es ist 10.49 Uhr an diesem sonnigen Vormittag, als die rote Rangierlok sich in Bewegung setzt. Es ist eine alte Lok, noch aus DDR-Produktion, Baureihe 346, 600 PS stark. Aber zu dieser Stunde kommt es nicht darauf an, wie stark sie ist, wie zuverlässig oder gut zu bedienen. In diesem Augenblick soll sie nur sein. 60 Tonnen schwer. Einfach nur dastehen. Mit ihrem ganzen Gewicht und dem Gewicht ihrer zwei Anhänger auf die Gleise unter ihren Rädern wirken. Ganz einfach. Und schrecklich spannend.

Sogar der Chef will seine innere Erregung nicht verbergen. Er hat schon den Bahntunnel unter dem Tiergarten verantwortet. Er hat Millionen Kubikmeter bewegt und kühne Hochbauten gemeistert. Aber nun bleibt sogar er nicht mehr gelassen. «Ist doch klar», sagt Hany Azer, Leiter des Neubauprojektes Lehrter Bahnhof. Viele seiner Kollegen haben Fotoapparate mitgebracht, um den Moment, den mancher der versammelten Experten für einmalig hält, fürs eigene Familienalbum festzuhalten. Es ist, als ob für einen Augenblick aus hartgesottenen Männern vom Bau wieder kleine Jungen werden, die mit großen Augen an ihrer Modelleisenbahn spielen. Denn gestern begannen die Belastungsproben für die Gleisanlagen des Riesenbahnhofs.

Alles ganz einfach: «Wir gucken nur», sagt Diplom-Ingenieur Azer, «ob wir richtig gebaut haben.» Geguckt wird besonders an den Übergängen der Brückenkonstruktionen und an anderen sensiblen Stellen. 49 Messpunkte hat jedes der sechs Gleise für die S- und Fernbahnzüge. Macht 245 Abtaststationen. Deren Daten laufen in einem Computer zusammen. Wenn die Versuchszüge rollen, sollen die Werte sich zu einer an- und abschwellenden Kurve fügen.

Herr Azer lächelt freundlich und macht mit der rechten Hand eine wellenförmige Bewegung. So sollen sie sich bewegen, die Brückenteile, wenn alles gut geht. Auf und ab und wundersam elastisch. Wenn Berechnung und Realität zusammen passen. Dann hebt und senkt es sich, plus/minus zwei bis 25 Millimeter. Über dreieinhalb Jahre Bauzeit, 775 000 Tonnen Beton, 118 000 Tonnen Stahl, ein Baugrund von der Größe von elf Fußballfeldern - und am Ende entscheiden ein paar Millimeter. Eigentlich, sagt Hany Azer, läge bei ihm «die Kraft in der Ruhe». Nun rollt, ganz langsam, die rote Lok auf den ersten Testpunkt zu, und Herr Azer hört «auf eine Stimme» tief in ihm drin, eine Stimme, die ihm Zutrauen und Begeisterung für seinen Job einflößt. Und diese Stimme hilft ihm jetzt doch sehr.

Von Messpunkt zu Messpunkt rollen, im Abstand von 15 Minuten, die kleinen Züge. Dann erhält das ganze Stützwerk darunter Spannung, die Spannung von Hunderten von Tonnen, die von oben drücken. Vorbelastung nennt der Fachmann dieses Prozedere. Laser ermitteln die Werte. Nichts ächzt, nichts quietscht, nichts regt sich. Ist was? Ingenieur Ingo Nossack hat zwei mechanische Anzeiger unter den Schienen angebracht. Um 1,4 bzw. 1,5 Millimeter biegen die Stahlstränge sich durch. Voll im grünen Bereich. Herr Nossack ist beruhigt.

Auf die Vorbelastung folgt in den kommenden Tagen die Probebelastung, dann mit durchrollenden Zügen. Und mit Werten, die ungefähr der Azerschen Wellenbewegung gleichen. Hoffentlich.