Es sieht friedlich aus, wenn man das Satellitenbild betrachtet. Wie eine Oase in der steinernen Wüste hebt sich der Stadtteil Santa Fe aus dem Moloch Mexiko-Stadt heraus. Doch genau diese Insellage 500 Meter über dem Rest der Metropole ist das Problem dieses Büro- und Universitätsviertels: 35.000 Menschen leben hier, 265.000 aber erscheinen täglich zur Arbeit, und Santa Fe erstickt im Autoverkehr. Für neue Straßen ist kein Platz, U-Bahnen durch den Berg sind unmöglich zu bauen – nun soll eine App fürs Smartphone die Probleme lösen.
Der Architekt und Stadtplaner José Castillo leitet ein kleines Team von Softwarespezialisten, und sie wollen den Fluss der Social-Media-Daten nutzen, um den Verkehrsfluss zu verbessern. „Wir suchen Datenspender, so wie Krankenhäuser Blutspender suchen“, sagt Castillo. Er kritisiert, dass die Städte noch keine Bewegungsdaten ihrer Bewohner erheben: „Momentan wird weder der private Verkehr in irgendeiner Form erfasst, noch gibt es valide Daten zu den öffentlichen Verkehrsmitteln.“ Die letzte Mobilitätsumfrage in Mexiko-Stadt, der schlimmsten Staustadt der Welt (siehe Kasten), sei sieben Jahre alt und habe nur 50.000 Menschen erfasst. „Das ist nichts im Vergleich zu den Social-Media-Aktivitäten einer Stadt mit 20 Millionen Einwohnern.“
Erkenntnisse dank Facebook
Dabei liegen manche Informationen buchstäblich auf der Straße, wie Castillos IT-Experte Carlos Gershenson sagt. „Das soziale Netzwerk Foursquare generiert Landkarten aus allen Orten, die die Nutzer besucht haben. Auf diesen Karten lassen sich die groben Bewegungsmuster der Bewohner schon gut erkennen.“ Auch Twitter und Facebook liefern Erkenntnisse, da viele hier veröffentlichte Meldungen Informationen über den Ort des Absenders enthalten.
Gershenson hat seine Gedanken in einem Vortrag in Ingolstadt ausgebreitet, weil das Team aus Mexiko sich um den Audi Urban Future Award bewirbt, der im November vergeben wird. Die europäischen Bedenken in Sachen Datenschutz sind dem Mexikaner bekannt, doch er schiebt sie beiseite. „Wenn Sie sechs Stunden am Tag pendeln und ich Ihnen eine Lösung verspreche, die voraussetzt, dass Sie mir Ihre Daten geben – dann geben Sie mir nicht nur Ihre Daten, sondern auch alle Ihre Passwörter.“
Doch es könnte auch sein, dass die Ideen von Castillo und Gershenson und vielen anderen Stadtplanern von zwei Faktoren ad absurdum geführt werden: dem immensen Wachstum der Autozulassungen und dem Egoismus des Menschen. Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen ist Deutschlands bekanntester Stauforscher. 60 Prozent aller Staus, sagt Schreckenberg, haben weder einen Unfall noch eine Baustelle als Ursache, sondern schlicht die Überlastung der Straßennetze. Und wenn es eng wird, neigen Autofahrer zum Lückenspringen.
„Wenn Leute die Spur wechseln, verursachen sie noch mehr Stau, den sie selbst gar nicht mehr mitbekommen“, sagt Schreckenberg. Jedes kleine Bremsmanöver, zu dem von hinten kommende Autofahrer gezwungen werden, macht die weiteren Autos langsamer, bis irgendwo weiter hinten der Verkehr zum Erliegen kommt. „Am besten wäre es, man würde den menschlichen Faktor aus dem Autofahren herausnehmen. Dann könnte man tatsächlich zehn bis 20 Prozent der Überlastungsstaus verhindern.“
Vorbild der Forscher ist die Schwarmintelligenz der Ameisen. Wer das Gewimmel in den Ameisenstraßen beobachtet, wird feststellen, dass die Insekten nicht zusammenstoßen. Sie reagieren ohne Zeitverzögerung auf die Bewegungen benachbarter Tiere und ordnen sich unbewusst dem Kollektiv unter. Das ist dem Menschen fremd, daher setzen Stauforscher auf die Weiterentwicklung der Auto-Elektronik hin zum autonomen Fahren. Der Weltverband der Ingenieure in New York schätzt, dass 2040 rund 75 Prozent aller Autos pilotiert unterwegs sein werden – also mit einem Fahrer hinterm Steuer, der aber seinem Auto das Kommando überlassen kann. Weil autonome Autos nahezu ameisengleich dichter hintereinanderherfahren können, wird der Straßenraum besser genutzt. Und wenn Autos erst selbstständig (und ohne Fahrer) in Parkhäusern verschwinden, hätte das ebenfalls entlastende Wirkung. In manchen Berliner Bezirken ist jedes dritte Auto auf Parkplatzsuche.
Bis die Autos das Steuer übernehmen, soll Big Data helfen, wenn es nach dem Forscherteam aus Mexiko geht. Es will nicht nur die Social-Media-Kanäle anzapfen, sondern entwickelt auch eine App, mit der die Fahrer aktiv Informationen zur Verfügung stellen. „Der Bürger übermittelt uns, wo er herkommt, wo er hinwill, wie lange seine Fahrt dauert, ob er sein Auto mit anderen teilt, ob er zur Arbeit fährt, wie lange sein Auto geparkt ist. Das gibt am Ende eine wunderbare Menge an Informationen“, sagt José Castillo. Entscheidend wird dann der Algorithmus sein, der aus der Menge der Daten Informationen darüber erzeugt, welche Straße zu welchem Zeitpunkt besser zu befahren ist, mit wem man den Arbeitsweg teilt und sich zur Fahrgemeinschaft zusammenschließen könnte.
Ganz ähnlich denken zwei andere Teams, die sich um den Mobilitätspreis bewerben. In Boston wird an der Echtzeit-Simulation von Veränderungen der Stadt gearbeitet. Software soll bestimmte Fragen entscheiden, etwa wie genau sich die Verkehrsströme verändern, wenn die Stadt 500 Quadratmeter mehr oder weniger Parkfläche zur Verfügung stellt. Anhand des 90.000-Einwohner-Vorortes Somerville soll gezeigt werden, dass Stadtplanung mit Verkehrsplanung verzahnt werden muss. „Die Zukunft der Städte“, sagt Projektleiter Philip Parsons, „wird nicht in Gebäuden, sondern auf dem Weg von A nach B entschieden.“
Auch in Berlin wird experimentiert
Diesen Ansatz verfolgt auch das Berliner Team, das sich mit der Anbindung des neuen Stadtteils Urban Tech Republic an den Rest der Stadt befasst. 15.000 Arbeits- und 5500 Studienplätze sollen auf dem Gelände des Flughafens Tegel entstehen, den Verkehr dorthin will man nicht sich selbst überlassen. Einer der Experten kommt vom Schweizer Fahrstuhlhersteller Schindler und ist dort zuständig für die effiziente Steuerung von Aufzügen in sehr großen Gebäuden.
In Berlin ist die Lage allerdings längst nicht so dramatisch wie in Mexiko-Stadt, wo Arbeitnehmer im Durchschnitt zweieinhalb Stunden pro Tag pendeln. „Manche verbringen mehr Zeit im Stau als mit der Familie“, sagt José Castillo. Und zudem kommen dort jedes Jahr doppelt so viele neue Autos auf die Straße, wie Menschen geboren werden.