Berlin. Konstantin Kuhle lacht laut auf. Wann er den Bundesinnenminister zuletzt erlebt hat? Die Frage kommt wie gerufen, der FDP-Politiker ist gerade zurück von einer Konferenz, bei der mehrere Abgeordnete Klage darüber geführt haben, dass sich Horst Seehofer (CSU) im Innenausschuss nicht sehen lässt; dass man ihn „schlicht nicht wahrnimmt“, wie der Grünen-Politiker Konstantin von Notz unserer Redaktion sagt. Er habe großen Respekt davor, wenn sich jemand aus Selbstschutz zurücknähme. Da gebe es nichts zu kritisieren. „Aber ohne ein Wort der Erklärung, öffentlich und nicht öffentlich, ist es schon kurios“, meint von Notz. „Die Lage ist innenpolitisch mega ernst, und das Bundesinnenministerium ist einfach nicht auf dem Platz.“
Seehofer macht sich rar. Das fällt auf, auch im Ministerium, wie einer aus der Leitungsebene erzählt. Erst recht im Vergleich zum umtriebigen Kabinettskollegen Jens Spahn (CDU, Gesundheit).
Seehofer ergreift kaum das Wort, gibt selten Interviews. Rede und Antwort stand er am 31. März bei „Bild-TV“. Danach begann, was Kuhle ein „Schweigegelübde“ nennt. Was hält Seehofer von der Diskussion über Lockerungen oder eine Corona-App? Wie kann er die uneinheitlichen Kontrollkriterien an den deutschen Grenzen vertreten? Findet er wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), dass man nicht alles dem Lebensschutz unterordnen dürfe?
Horst Seehofer gehört selbst zur Corona-Risikogruppe
Ende März hat Seehofer in der „Süddeutschen Zeitung“ noch gesagt, er halte es für „eine unvertretbare Strategie, Opfer in Kauf zu nehmen oder Parolen in die Welt zu setzen: ‚Die Wirtschaft muss bald wieder flottgemacht werden.‘ Das ist alles schönes Gebrüll.“
Seehofer hat selbst allen Grund, Abstand zu wahren. Er gehört zu einer Risikogruppe: Er ist 70 Jahre alt und hat eine Vorerkrankung. 2002 wäre er beinahe an einer Herzmuskelentzündung gestorben – als Folge einer Virusinfektion. Seehofer weiß, wovon er redet, als früherer Gesundheitsminister – und aus leidvoller Erfahrung.
Zu Beginn der Corona-Krise trat Seehofer noch mit Spahn und dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, auf. Er drängte auf Grenzkontrollen und forderte als erster Politiker, die Internationale Tourismus-Börse abzusagen. Die Vehemenz, mit der er auf den Plan trat, erklärten sich Beobachter mit der Todeserfahrung von 2002. Heute suchen Abgeordnete in der Erkrankung umgekehrt eine Erklärung dafür, warum er sich zurückhält.
Horst Seehofer macht sich durch sein Schweigen angreifbar
Seehofer ist weder krank noch in seinem Ferienhaus im Altmühltal. Er ist in Berlin, trägt im Krisenkabinett vor und schaltet sich beim Koalitionsfrühstück der Abgeordneten von Union und SPD per Video zu. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wie vergangene Woche im Bundestag eine Erklärung abgibt, sitzt ihr Innenminister auf der Regierungsbank, aber meldet sich nicht zu Wort. Sein Schweigen ist gewollt. Und politisch. Aber er macht sich angreifbar.
Während sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vor jede Kamera stelle, sei Seehofer „abgetaucht“, kritisiert FDP-Politiker Kuhle. Die Bekämpfung des Infektionsgeschehens sei nicht nur Sache der Bundesländer. „Von Grenzkontrollen durch die Bundespolizei bis zu Katastrophenschutz und Bevölkerungshilfe – die Zuständigkeiten des Bundesinnenministeriums liegen auf der Straße“, sagt Kuhle unserer Redaktion. „Horst Seehofer sollte daher sein Corona-Schweigegelübde brechen und deutlicher Stellung beziehen, auch zu der Frage, wie das angemessene Verhältnis zwischen Bürgerrechten und Gesundheitsschutz aussieht“, so Kuhle.
Das Innenministerium ist eine riesige Behörde, Seehofer führt sie mithilfe von mehreren beamteten Staatssekretären. Einer von ihnen, Markus Kerber, hat in der Pandemie eine Art strategisches Zentrum aufgebaut. Er hat eine Vielzahl von Wissenschaftlern an einen Tisch gebracht. Einige Expertisen sind auch öffentlich geworden: Im Hause Seehofer hat man die schlimmsten Szenarien durchgespielt. Bevor er abtauchte, markierte der Minister die Linie: „Ich bin ein entschiedener Anhänger der Suppression“, verriet er dem „Spiegel“.
Seehofer plädiert für harte Einschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus
„Suppression“ ist das Fremdwort für Unterdrückung. Seehofer steht dafür, das Virus mit strengen Kontaktverboten – zur Not wochenlang – zu unterdrücken, bis es sich nur so langsam verbreiten kann, dass man die Ansteckungsfälle ausmachen und isolieren kann. Das ist Gefahrenabwehr erster Güte. Das Gegenmodell dazu heißt „Mitigation“: Eindämmung. Es ist der Versuch, die Fallzahlen lediglich langsamer ansteigen zu lassen, so dass dem Gesundheitssystem Zeit für Vorbereitungen bleibt. Das ist die Denkschule, die sich im Ergebnis durchgesetzt hat und die Merkel vorsichtig, Ministerpräsidenten wie Armin Laschet (CDU) aus Nordrhein-Westfalen hemmungslos offensiv vertreten.
Vom Schweigen gibt es viele Varianten. Es gibt auch das Schweigen der Missbilligung. Seehofer hat Sorge, dass sich die Lockerung der Auflagen rächt. Er hat aufmerksam die Szenarien studiert, die das Imperial College zu Beginn der Krise erarbeitete. Im Computer hatten die britischen Wissenschaftler simuliert, was passieren könnte, wenn Auflagen zu früh gelockert würden: Dann kommt das Virus nach gut zwei Monaten umso vehementer zurück.
Merkel hat am Anfang der Krise abgewartet, aber dann ein Krisenkabinett gebildet. Es war ein Zeichen: Die Anti-Corona-Politik wurde zur Chefsache. Seither ist bei jeder Besprechung die Richtlinienkompetenz im Raum. Von CSU-Chef Markus Söder, der in der Sache eine harte Linie vertritt, würde Seehofer im Konfliktfall keine Rückendeckung erhalten. Beide verbindet eine gegenseitige Abneigung. Söder hat erst zu Jahresbeginn eine Diskussion über eine Kabinettsumbildung losgetreten.
Seehofer schaut auf Merkel und die auf die Länderchefs
Der Innenminister achtete in der Folge umso mehr darauf, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Er schöpfte nicht mal die Kompetenzen aus, die ihm zustehen. Nach dem Gesetz ist das Innenministerium für die Grenzpolitik zuständig. In der Praxis entscheidet Seehofer nicht ohne Merkels Zustimmung. Und die Kanzlerin nicht ohne die der Ministerpräsidenten. So kommt es, dass die Grenzen erst am 16. März geschlossen wurden; und auch nur fünf von neun.
An manchen Grenzen wurden die Schlagbäume runtergelassen (Österreich, Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Dänemark), an anderen handelten die Nachbarn (Polen, Tschechien) einseitig, an zwei (nach Holland, Belgien) ist nur Schleierfahndung möglich, weil die Ministerpräsidenten der betreffenden Bundesländer, Stephan Weil (SPD) und Laschet, keine Schließungen wollten.
Am Donnerstag steht die nächste Konferenz mit den Länderchefs an und die Grenzpolitik auf der Tagesordnung. Die Fachleute drängen auf ein einheitliches Grenzregime, Merkel wird wieder auf die Ministerpräsidenten hören – und Seehofer auf seine Kanzlerin. Seit Merkel in der CDU-Führung vor „Lockerungsdiskussionsorgien“ gewarnt hat, weiß Seehofer immerhin, dass sie seine Vorsicht teilt. Er könnte sich jetzt öffentlich auf ihre Seite schlagen. Aber auch das unterlässt er. Seehofer interpretiert das Gebot der Stunde – Distanz – auf seine Art.
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