Großprojekte

Nein zu Olympia - Kann Deutschland keine Hochsprünge mehr?

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Hochspringerin Ulrike Meyfarth holte 1972 Gold in München. Es waren die letzten Olympischen Spiele in Deutschland

Hochspringerin Ulrike Meyfarth holte 1972 Gold in München. Es waren die letzten Olympischen Spiele in Deutschland

Foto: imago/Pressefoto Baumann / IMAGO

Während der Sport wegen Hamburgs Nein zu Olympia geschockt ist, hinterfragen Experten den Sinn von Großprojekten in Deutschland.

Hamburg. Der Widerstand gegen den Berliner Pannen-Flughafen BER. Der Protest gegen den Tiefbahnhof Stuttgart 21. Erst das „Moch ma’ net“ zu den Winterspielen in München und Garmisch-Partenkirchen, und nun das Nein zum Sportspektakel in der Hansestadt. Mit einer Mehrheit von 1,6 Prozentpunkten haben die Hamburger denkbar knapp gegen ihre Stadt als Ausrichtungsort für die Olympischen Spiele 2024 gestimmt. Nur 48,4 Prozent waren dafür. Es ist nicht das erste Mal, dass Menschen in Deutschland gegen ein ambitioniertes Projekt aufbegehren. Warum ist das eigentlich so?

Der dänische Wirtschaftsgeograf Bent Flyvbjerg geht davon aus, dass jährlich zwischen sechs und neun Billionen Dollar für Großprojekte ausgegeben werden – mehr als das Sechsfache des US-Haushalts. Damit sei der größte Investmentboom in der Geschichte der Menschheit zu verzeichnen, schreibt der Professor an der Universität von Oxford in einer Studie 2014.

Nicht nur in Hamburg, sondern weltweit ringen politische Entscheider und Projektplaner aber mit einem grundsätzlichen Problem: „Not in my backyard“ (deutsch: „Nicht in meinem Hinterhof“) nennen Soziologen das Phänomen, dass die Bevölkerung eine Neuerung zwar grundsätzlich begrüßt, im näheren Umfeld aber keine Nachteile akzeptieren will. Für den gescheiterten Traum von Olympischen Sommerspielen an der Elbe machen Forscher mehrere Gründe verantwortlich.

Die schwierige Suche nach den Ursachen

War es die Angst vor dem Terror? Die Terrorgefahr war nach Sicht des Soziologen Ortwin Renn nicht die eigentliche Ursache des Neins. Renn geht jedoch davon aus, dass die Diskussionen nach den Terroranschlägen von Paris vor allem für diejenigen das Zünglein an der Waage waren, die zwischen beiden Positionen pendelten. „Für eine kleine Minderheit war das der Tropfen, der das Wasser zum Überlaufen gebracht hat“, sagt Renn.

War es die Finanzierung? Bis zuletzt war unklar, wer die Kosten von rund 7,4 Milliarden Euro übernimmt. Die Stadt wollte 1,2 Milliarden beitragen, die restlichen 6,2 Milliarden Euro sollte der Bund zahlen. Ausgerechnet in Hamburg waren die Kosten für ein anderes Großprojekt explodiert. „Die Elbphilharmonie ist eine Geschichte unsolider Großspurigkeit und unbeherrschbarer Risiken“, sagt der Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Thomas Kliche. Skandale wie dieser haben gesellschaftsweite Lernprozesse in Gang gesetzt. „Die Politik erntet heute mit dem allgemeinen Ekel im Grunde die Früchte der Parteifinanzierungsskandale der 80er- und 90er-Jahre, und so wird es auch dem Sport gehen.“

Waren es die Affären um Blatter und Niersbach? Tragen auch die Fifa-Krise und DFB-Affäre eine Mitschuld? Der Imageschaden, den die Korruptionsvorwürfe ausgelöst haben, sei eine schwere Hypothek, nicht nur für den DFB, erklärt Sportwissenschaftler Jörg-Uwe Nieland von der Deutschen Sporthochschule in Köln. Dass der Sport in der Krise steckt, ist der Antikorruptionsorganisation Transparency International eine zu einfache Erklärung. Nach der gescheiterten Bewerbung um die Winterspiele in München hätte man die Gründe für die Niederlage nicht aufgearbeitet, sondern sei „nahtlos in die nächste Bewerbung reingestolpert“, erklärt Sylvia Schenk, die bei Transparency für Sportfragen zuständig ist.

Haben die Hamburger dem Senat einen Denkzettel verpasst? Der Politologe Norbert Kersting von der Uni Münster sieht im Wahlausgang ein Symbol für eine Forderung nach mehr Transparenz und Offenheit in der öffentlichen Diskussion. „Zu sagen: Das ist jetzt alles negativ, das sind nur Neinsager, ist zu pauschal“, sagt er. Anders als bei der Pegida-Bewegung sieht er hier die rationalen Interessen im Vordergrund. Für Ortwin Renn ist das Nein zu Olympia kein Abwatschen des Hamburger Senats. In Umfragen stehe die Regierung positiv da.

Negativ, ja geschockt reagierte dagegen der Sport auf das Wahlergebnis. „Dolchstoß“, „Schmach“, „Sargnagel“: Das Hamburger Bewerbungsdesaster lässt den deutschen Sport ratlos zurück und macht alle Hoffnungen auf Olympia im eigenen Land für lange Zeit zunichte. „Dieses Signal sollte der gesamte Sport in Deutschland sehr ernst nehmen“, sagte DFB-Interimspräsident Reinhard Rauball, der sich mit seinem Verband um die Ausrichtung der EM 2024 bewirbt. Wenige Wochen nach dem kontinentalen Fußball-Turnier hätten die Spitzen von Sport und Politik auch gern Olympia-Fans aus aller Welt in Deutschland begrüßt. Doch daraus wird nichts – wohl für Jahrzehnte, wie Sportfunktionäre allesamt glauben. Welche Folgen das mehrheitliche Nein der Hamburger zu Sommerspielen 2024 beispielsweise für den deutschen Leistungssport hat, ist nicht abzusehen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nahm das Votum „mit Bedauern zur Kenntnis“, wie die Vizeregierungssprecherin Christiane Wirtz sagte. „Aber natürlich ist es so ... dass dieses Ergebnis zu respektieren ist.“ Die Kanzlerin erkenne selbstverständlich den Volkswillen an.

Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte, Ressortchef Thomas de Maizière (CDU) respektiere das Nein: „Sicherlich werden künftige Bewerbungen – jedenfalls in naher Zukunft – durch ein solches Votum wohl nicht einfacher.“

Auch die Spitzenfunktionäre des deutschen Sports suchten am Tag nach dem Desaster händeringend nach Erklärungen. Die Entscheidung hatte sie kalt erwischt. Man müsse analysieren, was die Gründe waren, „und dann müssen wir auch die Konsequenzen daraus ziehen und müssen den Sport für alle – aber auch den Spitzensport – weiter fördern“, sagte Michael Vesper, Vorstand im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). „Hamburg meine Perle vor die Säue geworfen. Das Tor zur olympischen (Sport)welt für immer geschlossen“, twitterte Handball-Altstar Stefan Kretzschmar, der wie viele Sportler mit Unverständnis reagierte. Vom „Sargnagel für den Leistungssport“ sprach die dreimalige Schwimm-Paralympics-Siegerin Kirsten Bruhn.

IOC ist nicht überrascht von der Entscheidung

Auf der Mitgliederversammlung des DOSB am Sonnabend in Hannover sollen nun die Folgen offen und transparent diskutiert werden, kündigte Verbandspräsident Alfons Hörmann an. Ob es dann auch Personaldebatten geben wird, ist noch nicht abzusehen. Olympia sollte den deutschen Spitzensport beflügeln. Diese Chance für die kommende Generation sei vergeben, sagte Hörmann. Einen Plan B gibt es nicht. „Wir waren auf dieses Szenario bis zum heutigen Tag nicht vorbereitet.“

Erst die Pleite in München mit der Ablehnung von Winterspielen 2022, zwei Jahre später nun der Reinfall mit Hamburg. Olympische Spiele in Deutschland werden „für eine Generation lang kein Thema mehr sein“, sagte der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Clemens Prokop, dem Bayerischen Rundfunk stellvertretend für viele Funktionäre. „Wir ziehen zwar über die Sotschis und Dohas dieser Welt her, sind aber nicht in der Lage, selbst Sportereignisse dieser Dimension auszurichten. Das ist die bittere Erkenntnis“, sagte der Chef des Deutschen Handballbundes, Andreas Michelmann. Das Referendum gleiche einem „Dolchstoß für die Entwicklung des Hochleistungs- und Breitensports unterhalb des Fußballs in Deutschland“, sagte der Präsident des Deutschen Volleyball-Verbandes, Thomas Krohne.

Beim IOC in Lausanne rief das Hamburger Nein kein echtes Erstaunen hervor. „Wenn man die Diskussionen in Deutschland in den letzten Wochen verfolgt hat, kommt dieses Ergebnis nicht ganz überraschend“, teilte ein IOC-Sprecher mit.

Die Sportausschussvorsitzende des Deutschen Bundestags, Dagmar Freitag, nannte als Gründe für das Scheitern die „mittlerweile schwierige Situation für den Sport“. Affären und Skandale wie bei der Fifa, dem DFB oder in der russischen Leichtathletik hätten „ein sehr schwieriges Licht auf den Sport“ geworfen. Es scheint, als habe Hamburg sich mit diesem Großprojekt zur falschen Zeit beworben.

( BM mit dpa )