In den Sitzungswochen des Bundestags lädt Rainer Brüderle immer mittwochs zu einem Pressefrühstück ein. In einem Konferenzraum des Jakob-Kaiser-Hauses informiert der FDP-Fraktionsvorsitzende die Hauptstadtjournalisten bei Kaffee und Schnittchen über seine Haltung zu den Fragen, die das Parlament und die Regierung beschäftigen.
In der Regel nutzen rund zwei Dutzend Reporter die Möglichkeit, den Chef von 93 liberalen Abgeordneten bei dieser Informationsveranstaltung zu befragen.
Frühstück bei Brüderle
In dieser Woche aber ist alles anders. Geschätzt 80 Journalisten drängen sich im Raum, schon vor der Tür warten vier Kamerateams und fünf Fotografen. Ein paar Fernsehleute sind jedoch zu schnell.
„Frau Himmelreich, Frau Himmelreich“, rufen sie einer blonden Frau zu, die dem Eingang des großen FDP-Sitzungssaals zustrebt. „Ich bin nicht Frau Himmelreich“, sagt die Journalistin verärgert. Ein paar Minuten später, um 10.35 Uhr, ist es aber so weit. Laura Himmelreich vom „Stern“ kommt den langen, holzgetäfelten Gang herunter.
Himmelreich duckt sich vor den Kameras
Begleitet wird sie vom Berliner Büroleiter des Magazins. Die 29 Jahre alte Reporterin, die mit ihrem umstrittenen Porträt über Rainer Brüderle die Sexismus-Debatte in Deutschland mit ausgelöst hat, duckt sich ein wenig vor den Kameras und geht wortlos in den Saal.
Die Kollegen verfolgen jede Bewegung der Reporterin, die einen dunkelblauen Mantel, einen grauen Rock und rote Wildlederstiefel trägt. Die „Bild“-Zeitung startet einen Liveticker, Journalisten twittern. Himmelreich setzt sich auf einen Stuhl in der Ecke an der Wand und wartet. Sie wird keine Frage stellen, sondern nur Notizen machen.
Eine Viertelstunde später betritt Brüderle sein Refugium. Der Sitzungssaal der FDP-Fraktion ist einer der schönsten in Berlin. Man schaut durch riesige Glasscheiben auf die Spree und den Reichstag. Hier ist Brüderle in seinem Element, scherzt beim Pressefrühstück mit den Korrespondenten, nimmt kein Blatt vor den Mund. Heute ist es anders. Der 67-Jährige schüttelt nicht wie sonst jedem Gast die Hand, sondern eilt zu seinem Platz an der Stirnseite des ovalen Tisches. Himmelreich würdigt er keines Blickes.
Brüderle bleibt bei seiner Linie
Lange hat Brüderle mit sich gerungen, ob er den Termin nicht ganz absagt. Erst am Morgen um 7.22 Uhr geht die Einladung an die Redaktionen raus. Denn er will sich nicht wegducken.
Dann eröffnet Brüderle die Runde: „Ich weiß, dass Sie heute Interesse vor allem an einem Thema haben. Ich habe mich bisher nicht zu dem Thema geäußert, und ich werde es auch weiter nicht tun. Dafür bitte ich um Verständnis.“ Nun ist es nicht Aufgabe von Journalisten, Verständnis zu haben, also folgen etliche Nachfragen, die der FDP-Politiker mit Variationen seines Eingangsstatements beantwortete: „Ich bitte einfach, meine persönliche Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen.“
„Kein Kommentar.“ „No Comment.“ Kein Wort also zum Abend des 5. Januar 2012, als er am Rande des traditionellen Dreikönigsballs der Liberalen an einer Bar in einem Stuttgarter Hotel auf Himmelreich traf und anzügliche Bemerkungen gemacht haben soll.
Sexismus-Debatte mit geselllschaftlicher Relevanz
Die Vorwürfe („Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“), veröffentlicht vor einer Woche, stehen im Raum, journalistisch nicht überprüfbar, vom Betroffenen unwidersprochen. Und zur Sexismus-Debatte an sich?
„Die läuft und hat sicherlich gesellschaftliche Relevanz“, sagt Brüderle. „Dass Debatten in der Demokratie geführt werden, ist ein legitimes und richtiges Phänomen.“ Aber er wolle sich nicht daran beteiligen. Auf die abschließende Frage, ob er seiner Partei als Spitzenmann für die Bundestagswahl angesichts der Vorwürfe noch von Nutzen ist, antwortet Brüderle: „Die FDP entscheidet das.“
Zwischendurch referiert der Fraktionschef über den Koalitionsausschuss am Donnerstag, Ökostromförderung, Renten, Haushalt, Mali und den laufenden Staatsbesuch des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi.
Himmelreich geht, Brüderle bleibt
Mit der letzten zugelassenen Frage versucht ein Journalist noch einmal, den Pfälzer aus der Reserve zu locken. Ob er jetzt nicht endlich die Chance nutzen wolle, etwas öffentlich klarzustellen oder sich persönlich bei der „Stern“-Kollegin zu entschuldigen? Brüderle bleibt bei seiner Linie. „Ich werde weiter keinen Kommentar dazu abgeben.“
Um 11.37 Uhr ist die Presserunde zu Ende. Brüderle bleibt auf seinem schwarzen Ledersessel sitzen, bis Himmelreich gegangen ist.
Der „Stern“ übrigens wehrt sich gegen den Vorwurf, man wolle gezielt den liberalen „Hoffnungsträger“ Brüderle niedermachen. Es sei gedanklich arm, wie FDP-Spitzenpolitiker nun „beleidigt-bockig“ reagierten. „Liebe Herren, es geht um nichts weiter als um Respekt“, schreibt Chefredakteur Andreas Petzold im Vorwort des neuen Heftes mit dem Titel „Der tägliche Sexismus“.
Nahles verlangt öffentliche Klarstellung
Die Affäre aussitzen, das will die SPD Brüderle allerdings nicht durchgehen lassen. Bisher sind die Sozialdemokraten recht pfleglich mit dem FDP-Mann umgegangen. Nun verlangt Generalsekretärin Andrea Nahles eine öffentliche Klarstellung und schimpft, dass die FDP ein Frauenproblem habe, sich in einer Wagenburg verschanze und den Eindruck erwecke, Brüderle sei das Opfer.
Die SPD-Fraktion will dem Thema Sexismus auch über die aktuellen Debatten hinaus stärkere Bedeutung widmen. „Das Thema muss unabhängig von Herrn Brüderle debattiert werden“, sagte der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann am Mittwoch in Berlin.
Und die Debatte geht weiter, auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Nach Günther Jauch (ARD) am Sonntag („Herrenwitz mit Folgen – hat Deutschland ein Sexismus-Problem?“) beschäftigt sich auch Maybrit Illner (ZDF) an diesem Donnerstag mit der Frage: „Schote, Zote, Herrenwitz – ist jetzt Schluss mit lustig?“
Bei der FDP jedenfalls ist den Mitarbeitern das Lachen noch nicht vergangen. So postete der Referent für Grundsatzangelegenheiten der niedersächsischen FDP-Fraktion auf seinem Facebook-Profil das Online-Startbild des Satiremagazins „Titanic“. Dieses zeigt ein Bild Brüderles neben folgendem Schriftzug: „Sexismus-Streit vorbei? Brüderle bietet Versöhnungssex an“.