Brüderle

Deutschland schreit gegen Sexismus auf

| Lesedauer: 4 Minuten
Annette Prosinger

#Aufschrei ist derzeit eines häufigsten Schlagworte im deutschen Twitter-Universum. Brüderle war nur der Anlass für eine Sexismus-Debatte.

Was war das? Üble Anmache oder harmloser Flirt, Alt-Herren-Witzchen oder Machismo pur? Seit dem Bericht der „Stern“-Reporterin Laura Himmelreich, 29, über ihre Begegnung mit einem offenbar testosteronüberschwemmten Rainer Brüderle, 67, an einer Hotelbar hat Deutschland ein neues Thema: Sexismus im Alltag. Politiker nehmen Stellung, Prominente melden sich zu Wort, und auf Twitter bricht die Debatte alle Rekorde: #Aufschrei ist derzeit das am häufigsten verwendete Schlagwort.

Unter Politikern dreht sich die Debatte vor allem um die Fragen: Darf Journalismus so indiskret sein? Wie sehr muss sich ein Politiker unter Kontrolle haben? Der „Stern“ hat in seiner jüngsten Ausgabe von Annäherungsversuchen des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber einer jungen Reporterin berichtet. Das reichte von altväterlichen Avancen („Ich würde Ihnen meine Tanzkarte anbieten“) bis zu Kommentaren über ihre Oberweite („Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“). Dass die Reporterin Brüderle auf den professionellen Zusammenhang ihrer Begegnung verwies – „Sie sind Politiker, ich bin Journalistin“ –, konnte ihn nicht bremsen. Ein Dementi von Rainer Brüderle gibt es nicht zu diesem Artikel. Er zieht es offenbar vor, gar keinen Kommentar abzugeben. Scharfe Kritik kommt dagegen von Wolfgang Kubicki, FDP-Chef in Schleswig-Holstein: „Bisher waren abendliche Gespräche, ob beim Essen oder nach einem Parteitag an der Hotelbar, ein durch Vertraulichkeit geschützter Bereich.“

Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass ein Politiker einer Journalistin zu nahe kommen wollte. Doch bisher wurde das gerne verschwiegen. Der „Stern“-Bericht ist ein Regelbruch, der auch in der Medienbranche für Kritik sorgt. Dass die Begebenheit bereits vor einem Jahr stattgefunden hatte und erst jetzt veröffentlicht wurde, kurz nachdem Brüderle zum Spitzenkandidaten der FDP für die Bundestagswahl gekürt worden war, ist in der medienwirksamen Absicht durchschaubar.

Wucht dieses „Aufschreis“ überrascht

Doch die öffentliche Diskussion hat sich längst von Brüderle und der journalistischen Ethik wegbewegt. Um den allgemeinen, ganz alltäglichen Sexismus geht es hier, und unter dem Twitter-Topic „#Aufschrei“ laufen im Minutentakt die Statements ein: In 140-Zeichen-Botschaften berichten Frauen (und einige Männer) von männlichen Übergriffen auf Firmenfeiern und Volleyballturnieren, im Büro, im Unterricht, im Freundeskreis. „Für Frauen“, twittert Nicole Simon, „ist die Frage nicht, ob sie je belästigt wurden, sondern nur, wie lang das letzte Mal her ist.“

Die Wucht dieses „Aufschreis“ überrascht. Sexismus, das war doch ein Thema des ausgehenden 20. Jahrhunderts, droht jetzt der Geschlechterkampf aus den 1970er-Jahren zurückzukehren? Ist die Gesellschaft nicht weiter?

Doch, ist sie. Und genau das ist der Grund, warum es nun Aufregung gibt. Frauen haben mittlerweile im Berufsleben Positionen erreicht, in denen sie sich Anzüglichkeiten nicht mehr gefallen lassen müssen. Der Sekretärin, der Assistentin, der Arzthelferin ging es in vergangenen Zeiten anders, waren sie doch abhängig von den Chefs. Doch die Frau an der Bar, in der Politiker B. nur die Gelegenheit zum Herrenwitz erkennen wollte, verfügte über einen Beruf, der einen eigenen Machtapparat hinter sich hat. Den hat sie genutzt. Nicht unbedingt auf die feine Art, aber schlagkräftig.

Und diese Ungleichzeitigkeit sorgt nun für die Sensation: Hier der alte Mann, der vermutlich nicht einmal ahnte, wie belästigend seine Avancen waren – da die junge Frau, die sich stark genug weiß, um sich zu wehren. Ob sie ihm damit mehr geschadet hat als er ihr, gehört zu den offenen Fragen in der Debatte, in deren Zentrum jetzt die Kommunikation zwischen Männern und Frauen generell steht: Frauen begegnen Männern beruflich auf Augenhöhe – aber ihre Verhaltensweisen sind immer noch verschieden. Was Männer für ein neckisches Spiel halten, erleben Frauen als unverschämte Erniedrigung. Der Spaß des einen ist für die andere Sexismus. Männer sind in ihrem Drang zu Machtdemonstrationen für Frauen so schwer auszuhalten wie für Männer Frauen mit realer Macht. Und alle müssen lernen, miteinander klarzukommen. Das ist schwer. Und das gibt Krach. Aber dieser Krach ist gut. Er ist die Begleitmusik des gesellschaftlichen Fortschritts.

Die Debatte bei Twitter