Sie haben 25 Mal getagt, 228 Stunden zusammengesessen, 54 Zeugen befragt, darunter Minister in Amt und Würden und solche, die es mal waren, sie haben 6900 Aktenordner durchgeackert und 2800 digitale Polizeiprotokolle gesichtet. Man kann den Mitgliedern des NSU-Untersuchungsausschusses also nicht vorwerfen, sie wären faul gewesen, seitdem das Gremium auf den Tag genau vor einem Jahr, am 26. Januar 2012, vom Bundestag eingesetzt wurde.
Doch bis zum heutigen Tag suchen die Abgeordneten weiter nach Antworten auf die eine, zentrale Frage: Wie hatte es überhaupt so weit kommen können, dass eine rechtsextreme Terrorgruppe aus dem Untergrund heraus zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen umbringen konnte, ohne dass Polizei und Nachrichtendienste ihrem mörderischen Treiben auf die Spur kamen? Immerhin, es gibt inzwischen Bausteine für den Versuch einer Erklärung. Denn die Zeugenbefragungen gaben den Parlamentariern – allen zunächst beklagten Verschleierungsaktionen zum Trotz – durchaus Einblicke, nicht selten in Abgründe.
Das Bild, das entstand, war das eines zerstrittenen Sicherheitsapparates, in dem Polizisten und Verfassungsschützer aus Bund und Ländern wenig miteinander reden, sich dafür umso mehr übereinander beklagen und mit gegenseitigen Vorwürfen überziehen. Tatsächlich war den zuständigen Stellen ja auch einiges bekannt über Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und ihre Komplizin Beate Zschäpe, die das Trio bildeten, das sich Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nannte und kreuz und quer durch die Republik eine Blutspur hinterließ. Doch die Informationen, die man hatte, gelangten oft nicht über Behörden- oder Ländergrenzen hinaus, sie wurden nicht miteinander verknüpft – weshalb kein Ermittler auf die Idee kam, intensiver in der Neonazi-Szene nach den Tätern zu suchen. Die Bande flog deshalb erst im November 2011 auf. Gegen die einzige Überlebende, Beate Zschäpe, soll bald vor dem Oberlandesgericht München der Prozess als mutmaßliche Mittäterin bei insgesamt zehn Morden beginnen. Vier weitere Personen sind als mutmaßliche Helfer angeklagt.
Untersuchung der Terrorserie gerät in Zeitnot
Das Problem der Parlamentarier ist, dass ihnen jetzt, da man in die weitere Detailarbeit einsteigen könnte, die Zeit davonläuft. Denn spätestens in der letzten Sitzungswoche Ende Juni muss nicht nur die Ausschussarbeit beendet sein, sondern auch der Abschlussbericht vorliegen. „Um all das untersuchen zu können, was jetzt noch auf unserer Agenda steht, müssen wir uns echt beeilen“, sagte die Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Eva Högl der Berliner Morgenpost. „Wir haben zum Beispiel die Geschehnisse in Thüringen noch nicht ausreichend bearbeitet, wo beim Verfassungsschutz vieles im Argen lag“, so Högl, der als Obfrau ihrer Fraktion im Ausschuss eine zentrale Rolle zukommt. Ein weiterer „blinder Fleck“ seien die Strukturen in Sachsen, wo die drei jahrelang hatten untertauchen können. „Schließlich müssen wir in einer gesonderten Runde weitere Zeugen befragen, deren Aussagen für die Stoffsammlung gebraucht werden, aus der ein Katalog mit Vorschlägen entstehen soll, was sich strukturell bei Polizei, Verfassungsschutz, Justiz und in der Zusammenarbeit von Bund und Ländern zu ändern hat.“
Högl plädiert angesichts des Zeitdrucks wie zuvor bereits der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (ebenfalls SPD), eine Sondersitzung des Bundestags Ende August oder Anfang September anzuberaumen, bei der dann auch erst der Abschlussbericht vorgelegt werden müsste. „Das würde uns Luft verschaffen, um den Bericht in Ruhe gemeinsam zu verfassen und auch in den Bewertungen vieles im Konsens zu formulieren.“ Entschieden wurde darüber noch nicht.
Dennoch steht schon jetzt fest, dass im NSU-Komplex zentrale Fragen offenbleiben werden, die aber zu speziell oder zu groß sind, um vom Ausschuss geklärt werden zu können. „Das betrifft vor allem die Aufklärung der zehn Morde bis ins Detail, aber auch das Rätsel, wie die Mordopfer überhaupt ausgewählt wurden“, sagte Högl. Außerdem sei bis heute unklar, ob der NSU nicht doch mehr aktive Mitglie-der hatte als bekannt – abgesehen von den Unterstützern im Freundes- und Bekanntenkreis, die die drei mit Wohnungen, Waffen und Ausweisen versorgten.
War das Trio ein Trio?
Tatsächlich hat mancher Zweifel daran, dass dass Terrortrio wirklich ein Trio war. Zum Beispiel der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke, der die Ausschussarbeit von Beginn an begleitet hat. „Es gibt klare Hinweise, dass der NSU aus mehr als drei Leuten bestand“, sagte Funke. Als Beispiel nannte er den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn. „Mehrere Zeugen berichteten unabhängig voneinander von der hektischen Flucht zweier männlicher Personen mit blutverschmierter Kleidung sowie von drei weiteren Fluchthelfern.“
Eva Högl ist aber nicht der Ansicht, dass ausgerechnet der Fall Kiesewetter darauf hindeutet, dass es weitere NSU-Mitglieder gab: „Für Funkes These gibt es nach den Zeugenaussagen keine Indizien. Der Mord von Heilbronn war vielleicht gar kein geplanter, er ist womöglich begangen worden, weil die Gefahr bestand, entdeckt zu werden. Hier gibt es so viele Ungereimtheiten, dass man nur hoffen kann, dass im Strafprozess noch manches ans Licht kommt.“ Auch Funkes Befund, dass die Aufklärung immer noch an „teils massiven Blockaden der Sicherheitsbehörden“ scheitere, teilt sie nicht: „Wir haben ausreichend deutlich gemacht, dass es besser ist, uns Akten zu geben, als sie uns vorzuenthalten oder gar zu vernichten. Das wurde gelernt. Da können wir uns im Moment nicht beschweren.“