Karlsruhe

Verfassungsgericht wird zum Reparaturbetrieb der Politik

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Thorsten Jungholt

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Karlsruhe hat das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Damit korrigieren die Richter erneut die Arbeit von Regierung und Parlament.

Mangelnde Geduld mit dem Gesetzgeber lässt sich dem Bundesverfassungsgericht nicht vorwerfen. Als die Richter das Wahlrecht 2008 in Teilen für verfassungswidrig erklärten, ließen sie dem Bundestag drei Jahre Zeit zur Reparatur. Aus Respekt vor dem Parlament und der Komplexität des Themas nahm Karlsruhe in Kauf, dass die Umrechnung des Wählerwillens in Abgeordnetenmandate bei der Bundestagswahl 2009 noch ein letztes Mal unter Anwendung der infrage gestellten Regeln stattfinden konnte.

Diese großzügige Frist verstrich ungenutzt. Die im Parlament vertretenen Parteien konnten sich nicht auf eine gemeinsame Reform verständigen. Nun kann Karlsruhe keinen Gerichtsvollzieher schicken, um seine Urteile durchzusetzen. Der Präsident Andreas Voßkuhle nutzte stattdessen Vorträge und Interviews, um auf die Unzufriedenheit mit der zögerlichen Politik aufmerksam zu machen.

Im September 2011 aber gab er die übliche Zurückhaltung auf. Bei einer Rede, nicht zufällig in Berlin, machte Voßkuhle unmissverständlich klar, dass der Langmut des obersten deutschen Gerichts erschöpft sei. Wenn bis zur nächsten Bundestagswahl kein verfassungsgemäßes Gesetz existiere, ließ er die Volksvertreter wissen, „dann kann das Gericht in einer einstweiligen Anordnung sagen: So geht es nicht.“ Und: „Wenn Not am Mann ist, dann machen wir es auch selbst.“

Wenige Monate später wurde schließlich doch ein neues Wahlrecht verabschiedet. Das aber stellte ein Novum dar: Erstmals wurden diese für eine Demokratie so zentralen Normen nicht mit einer parteiübergreifenden Mehrheit beschlossen, sondern allein von der Regierungskoalition. Es wäre zu einfach, die Schuld dafür allein Union und FDP in die Schuhe zu schieben: Wahlrechtsfragen sind Machtfragen, und jede der im Bundestag vertretenen Parteien hatte nur die eigenen Interessen im Blick. Der Wille zum Kompromiss fehlte, das Gesetz war folglich umstritten. SPD und Grüne riefen erneut Karlsruhe an, und mehr als 3000 Bürger reichten unter Federführung des Vereins Mehr Demokratie eine eigene Beschwerde ein.

Verfassungswidriger Zustand

Diese Vorgeschichte ist hilfreich, um das am Mittwoch ergangene Urteil zum Wahlrecht zu verstehen. Schon in seinen einleitenden Äußerungen machte Voßkuhle klar, dass das Gericht mit seiner Geduld gegenüber dem Gesetzgeber am Ende ist. „Trotz einer großzügig bemessenen dreijährigen Frist für den Wahlgesetzgeber, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, ist das Ergebnis – das ist übereinstimmende Auffassung im Senat – ernüchternd“, sagte Voßkuhle. Das sei mit der Komplexität der Materie nicht mehr zu begründen, und angesichts der Vorgeschichte sehe der Senat auch keine Möglichkeit, „den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren“. Sein Fazit: „Die Konsequenz ist, dass es gegenwärtig an einer wirksamen Regelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Bundestagswahlen fehlt.“

Eine schallende Ohrfeige für die politische Klasse, und nicht die erste. Vor wenigen Tagen bemaß das Gericht die finanziellen Leistungen für Asylbewerber neu. Sie waren seit 1993 nicht angepasst worden – nach dem Urteil der Richter verfassungswidrig und menschenunwürdig. Kurz zuvor hatte Karlsruhe festgestellt, dass die Bundesregierung das Parlament bei den Verhandlungen zum ESM nicht ausreichend informiert hatte. Auch die Regelungen zur Sicherungsverwahrung hatte das Gericht gekippt: Die Richter erklärten sämtliche Regelungen zur Sicherungsverwahrung von besonders gefährlichen Straftätern nach deren Haft für verfassungswidrig. Karlsruhe forderte den Gesetzgeber im Mai 2011 auf, das Regelwerk innerhalb von zwei Jahren zu reformieren.

Im Fall des Wahlrechts regelte Karlsruhe das neue Wahlrecht zwar, wie von Voßkuhle angedroht, nicht gleich selbst. Dennoch begnügte sich das Gericht nicht damit, nur wieder eine Reform anzumahnen. Sondern es drängte den Gesetzgeber zur Eile und gab den Volksvertretern diesmal detaillierte Vorgaben mit auf den Weg. In den Worten der acht Richter des Zweiten Senats hörte sich das so an: „Im Hinblick auf die Notwendigkeit, den Wahlen zu den kommenden Bundestagen eine verlässliche rechtliche Grundlage zu geben und dem Risiko einer Auflösung des Parlaments im Wahlprüfungsverfahren zu begegnen, hält der Senat es für geboten, die gesetzlichen Wertungen in einem handhabbaren Maßstab zusammenzuführen, an den der Gesetzgeber anknüpfen kann.“

Die Vorgaben Karlsruhes betreffen drei zentrale Methoden des „Sitzzuteilungsverfahrens“. Da ist zum einen das sogenannte negative Stimmgewicht. Das ist ein Phänomen, das dazu führt, dass mehr Stimmen für eine Partei zu weniger Sitzen führen können – und umgekehrt. Das Gericht gab dem Gesetzgeber 2008 auf, das „widersinnige“ Stimmgewicht zu beseitigen. Das ist mit dem neuen Gesetz nicht gelungen. Dem Lösungsansatz von Union und FDP, den Effekt unter Verzicht auf bundesweite Listenverbindungen zu unterbinden, erteilte Karlsruhe zwar grundsätzlich seinen Segen. Allerdings dürfe dabei nicht wie vorgesehen die Zahl der tatsächlichen Wähler in einem Bundesland als Grundlage herangezogen werden. Maßstab müsse stattdessen „die Größe der Bevölkerung oder die Zahl der Wahlberechtigten“ sein, so das Gericht. Den zweiten Verfassungsverstoß beging die Regierungskoalition mit der Schaffung von Zusatzmandaten. Dieses im Fachjargon „Reststimmenverwertung“ genannte Verfahren soll dafür sorgen, dass Stimmen für kleinere Parteien, die in der Regel keine Direktmandate gewinnen, bei der Sitzzuteilung im Rahmen einer bundesweiten Verrechnung berücksichtigt werden. Das Gesetz aber sei zur Erreichung dieses Ziels „nicht geeignet“, so der Senat.

Überhangmandate begrenzt

Schließlich beanstandeten die Richter, dass auch das neue Wahlrecht die Möglichkeit zahlreicher Überhangmandate schaffe. Solche Zusatzmandate entstehen, wenn die Kandidaten einer Partei mehr Wahlkreise gewinnen, als es dem Anteil der Partei bei den Zweitstimmen entspricht. Diese Mandate kommen tendenziell den großen Parteien zugute – bei der Bundestagswahl 2009 gingen alle 24 Überhangmandate an die Union. 1998 hatte die SPD sämtliche 13 Überhangmandate abgeräumt. „Überhangmandate sind nur in eng begrenztem Umfang mit dem Charakter der Wahl als Verhältniswahl vereinbar“, urteilten nun die Richter.

An dieser Stelle wurde der Senat dann sehr konkret. Künftig soll die Höchstgrenze bei „etwa 15“ Überhangmandaten liegen. Diese Zahl ist nicht willkürlich festgelegt, sondern orientiert sich an der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Die sieht vor, dass für die Bildung einer Fraktion 30 Abgeordnete erforderlich sind. Die Hälfe dieser Zahl sei ein guter Maßstab für die Überhangmandate, befanden die Richter.

Mit diesem Teil des Urteils zeigte sich der Verein Mehr Demokratie nicht zufrieden. „Am sinnvollsten wäre es, sich grundsätzlich von Überhangmandaten zu verabschieden“, sagte Michael Efler, Vorstandssprecher der Bürgerrechtler. Doch bei Union und SPD, den Profiteuren dieser Mandate, dürfte das keine Chance haben. Schon am Mittwoch überlegten die Wahlrechtsexperten beider Volksparteien, wie man die 15 Sitze möglichst ausschöpfen und dann mit Ausgleichsmandaten für den Konkurrenten versehen könnte. Die Lösung hätte allerdings ein Anschwellen des Bundestags zur Folge und wäre damit eine für den Bürger nicht ganz billige Lösung. Besser wäre es zweifellos, den Worten des Bundestagspräsidenten zu folgen. Das Urteil gebe „hinreichenden Anlass zu einer selbstkritischen Betrachtung des Verfahrens der Gesetzgebung“, sagte Norbert Lammert.