Wenn sich am Donnerstagabend halb Europa vor dem Fernseher zum Halbfinale Deutschland – Italien versammeln wird, muss die Kanzlerin beim Brüsseler Gipfel mal wieder Europa retten. Auf dem Programm steht „Arbeitsessen“, eine tückisch nette Umschreibung für: zähes Geschachere nach unklaren Regeln mit flexibel interpretierbaren Resultaten. Auf gut Fußballerisch: Es fehlt der Teamgeist, und Egomanie kommt auch noch dazu.
Vielleicht besteht für Angela Merkel wenigstens die Chance, auf einen Fernseher zu lugen, aber wenn Monti mauert, erfährt sie nur Zwischenstände per SMS.
Schicksalsstunden einer Kanzlerin, die als Fußballexpertin fast so gefürchtet ist wie als Parteivorsitzende. Mitarbeiter im Kanzleramt schwören, dass die Chefin nicht nur große Turniere, sondern auch Bundesliga und Champions League bisweilen kundig analysiert.
Ihr Initiationserlebnis hatte sie mit 19, als sie inmitten von 100.000 Zuschauern im Leipziger Zentralstadion beim Länderspiel DDR – England im Jahr zwei nach Sparwasser zunächst das 1:0 von Streich (66.) bejubelte, um zwei Minuten später den Ausgleich von Channon zu betrauern.
Was für andere Menschen das Klavierspielen ist für die Bundeskanzlerin ein guter Kick: Nach täglich bis zu 18 Stunden Europa-Retten taucht sie gerne ab in diese wundervoll einfache Welt, wo leistungsbereite Kerle nach festen Regeln klare Ergebnisse abliefern, wo Führung als Kunst gilt, Teamgeist als Pflicht und das Volk mal nicht bockt. Fußball bedeutet für Angela Merkel einen Kurzurlaub vom politischen Ich. An einem Ort, an dem das Wort des Chefs gilt und auch die Bank saustark ist.
Elf Gründe, warum Angela Merkel heute sicher lieber im Stadion wäre als in Brüssel.
1. Ehrliche Emotionen
Im Stadion darf Angela Merkel ihre Rolle als Regierungschefin verlassen und – wie es jeder gute Therapeut empfiehlt – das befreiende Gefühl der Selbstvergessenheit genießen. Derartige Gefühlsausbrüche waren beim Spiel gegen die Griechen zu bewundern. Angela Merkel schlägt die Hände vors Gesicht, springt auf, johlt nicht ganz kanzlerinnen-like und zeigt ihr sehr spezielles Handtellerklatschen. Sieht sie sich hinterher, staune sie über sich selbst, heißt es. Doch schön muss es sein, nicht zu kommandieren, sondern einfach nur zuzuschauen.
2. Kabine ist schöner als Kabinett
Die Gefühle Angela Merkels reichen noch weiter, bis in die Kabine. Wann immer Team-Manager Oliver Bierhoff ein Signal gibt, die Chefin könne doch mal wieder vorbeischauen, da eilt die Kanzlerin ins Reich von Männerschweiss, Sixpacks und groben Stollen. „Durchtrainiert“ ist nun mal keine politische Kategorie; oder mag man sich Kauder oder Altmaier in kurzen Hosen vorstellen? Da ist sie mit ihren alten Bekannten Klose, Lahm, Podolski und Schweinsteiger besser bedient. Und stets kommen noch Frische dazu wie Reus, Hummels oder Bender. Anders als die CDU hat der Fußball in NRW kein Personalproblem.
3. Endlich mal durchregieren
Fußball ist das Gegenteil von Mitbestimmung, und das ist gut so. Man stelle sich vor, Jogi Löw müsste die Mannschaftsaufstellung mit Preetz, Favre und Babbel auskaspern, wegen des Regionalproporz auch saarländische, thüringische oder, schlimmer noch, Berliner Kicker aufstellen und die erste Elf hinterher vom DFB-Verbandstag absegnen lassen. Von wegen. Löw und Bierhoff führen eine lupenreine Fußball-Diktatur, garantiert funktionärs-, koalitions- und kompromissfrei. Regieren ohne Seehofer wird die Kanzlerin dagegen kaum mehr erleben.
4. Vertrauen in den Chef
Jogi Löw hatte bisher einen Lauf, und das zeigt er auch: Der Bundestrainer kann die Realität verändern, nur weil er es will. Schickt er Schürrle, Reus, Klose auf den Platz, gewinnt das Team. Mit Gomez und Bender auch. Und Löw schlurft tiefenentspannt in Wildlederslippern übers Grün. Von den Spielern gibt es ergebene Blicke. Das Vertrauen der Mannschaft in die glückliche Hand des Trainers ist grenzenlos. Keiner wird nervös durch neue Aufstellungen, alle gewinnen noch an Selbstvertrauen. Dieses Phänomen ist bei Koalitionsrunden nur selten zu entdecken.
5. Klaglose Personalentscheidungen
Erinnern wir uns an das Auftaktspiel gegen die Niederländer: Der Bundestrainer ließ zwei verdiente Recken auf der Bank, Klose und Mertesacker. Mitleidsbekundungen? Nein. Aber voller Respekt für zwei, die sich klaglos fügten. Womit wir bei NorbertRöttgen wären, einem Spieler der Regierungsmannschaft, der als Wahlkämpfer im größten Bundesland ebenso Formschwächen zeigte wie als Minister. Die Trainerin warf ihn aus dem Kader so wie Löw einst Kuranyi. Die halbe Partei heulte, beklagte unmenschlichen Umgang und kulturelle Verwerfungen. Klaglos dort spielen, wo und wann der Trainer befiehlt, oder eben eine Weile zuzuschauen und heftiger zu trainieren – das ist eine Tugend, die der Fußball der Politik voraus hat.
6. Auswahl an Talenten
Jogi Löw hat seit dem Sommermärchen ein sehr viel größeres Reservoir an Spitzenkräften zur Auswahl; nahezu jede Position ist doppelt besetzt. Die Kanzlerin spielt nahezu unverändert. Die Positionen wechselten, aber die Stammmannschaft ist immer noch im Dienst: Schäuble, de Maizière, Schawan, von der Leyen, Lammert, Kauder, Altmaier. Die wenigen Neuen wie Familienministerin Schröder brauchen dringend internationale Erfahrung. Verletzungen würden der Merkel-Mannschaft weh tun, denn die Bank ist dünn besetzt. Der deutsche Fußball kann sich ein brutales Auslesesystem erlauben; jedes Jahr drängen Hunderttausende Junge nach, die sich schinden, um nach oben zu kommen. Körper, Geist, Tempo, alles muss stimmen. In der CDU dagegen reicht es für die Spitze, wenn ein Jungunionist 30 Jahre tapfer sitzen bleibt.
7. Erfahrung mit Finanzkrisen
Mit den Millionen, die allein in Deutschland, hier vor allem in Schalke, und in Italien, dort eigentlich überall, seit dem Bundesliga-Skandal der frühen Siebziger sinnlos verbrannt, verzockt und verpulvert wurden, könnte man locker den Rettungsschirm für Zypern aufspannen. Aber Pleiten und Skandale verschwinden im Fußball in wundersamem Tempo ebenso wie Gehälterdiskussionen. 6,9 Millionen Euro würde der DFB allein für die deutschen Kicker locker machen, wenn sie den Titel holen. Aufregung? Keine. Fünf Euro Diätenerhöhung dagegen führen umgehend zu einem Volksaufstand. Es lebe die großzügige Lässigkeit und das Zutrauen, dass irgendein Eichberg, Abramowitsch oder Berlusconi kommt, der die Sache regelt.
8. Klare Regeln
90 Minuten, klar begrenztes Spielfeld, gleich große Tore – soviel zuverlässige Regeln begegnen der messgewohnten Physikerin Merkel in der Politik eher selten. Ein Euro-Gipfel ist kein Elfmeterschießen, sondern eher ein gemeinsamer Trip ins Ungefähre, von dem jeder Teilnehmer ganz andere Erinnerungen mit nach Hause bringt. Einen Schieri gibt es nicht, noch nicht mal einen für die groben Linien, dafür jede Menge versteckter Fouls, Schwalben und lächelnd dargebotenes Nachtreten.
9. Teamgeist
Einer für alle, alle für einen – das von den Musketieren entliehene Motto wird von der deutschen Elf über weite Strecken überzeugend vorgetragen. Schwächelt Schweini, dreht Khedira auf. Patzt Hummels, wirft sich Boateng in den Schuß. Dass das Ganze mehr ist als die Summe der Akteure, hat sich weder bis nach Berlin und schon gar nicht bis Brüssel herumgesprochen. Der Politiker von Rang verläßt sich nach wie vor auf den Solo-Lauf.
10. Das Nationale
Jahrzehnte betrachtete vor allem die britische Presse den Fußball als Ersatzkrieg. Doch von „deutschen Panzern“ auf dem Rasen ist kaum mehr die Rede, die Nationalteams sind generell bunter als je zuvor. Nationale Stereotypen von Griechen, Italienern und vor allem von Deutschen werden bei dieser politisch aufgeladenen EM nun anhand der Politik abgearbeitet. Nicht Löw wird als sinkender U-Boot-Kapitän dargestellt, nicht Müller als Kampfmaschine im Ledermantel – die Kanzlerin ist alleinige Hassfigur. Wenn sie aber im Stadion ist, kann Merkel sich auf den Sport berufen. Jogi vorschicken und sich im Windschatten der Sympathien für die deutsche Elf bewegen. Eine Wohltat für geschmähte Politiker.
11. Empathie der Medien und Bürger
Würde die Bundespressekonferenz nur mit Sportreportern besetzt, wäre Berlin ein Streichelzoo. Wie die Medien, so das Land – überall nur Fans, die großzügig über Fehlpässe, missratene Interviews oder zweifelhafte Berater hinwegsehen. Was Politiker an Wut zu viel abbekommt, bleibt den Kickern erspart. Solange der Ball rollt, entdeckt ein Land seine Fähigkeit zur Empathie, mag Migrantenkinder, fühlt sich als moderne Wertegemeinschaft. Und so kann auch die Kanzlerin vor dem ZDF-Mikrofon in den Katakomben sagen, was sie will – im Rausch patriotischer Gefühle wird sie in die große Fanfamilie aufgenommen. Zumindest für die Dauer des Spiels. Im Alltag der Kanzlerin ist dagegen immer nach dem Schlusspfiff. In Brüssel spielt die raue Wirklichkeit.