Charismatisch, eloquent und schlagfertig: So kennt man Gregor Gysi. Nur bei einem Thema versteht der Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag keinen Spaß. Wer behauptet oder auch nur andeutet, der Anwalt sei ein Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewesen, wird in der Regel vor Gericht gezerrt. So wie der Norddeutsche Rundfunk. Auf Wunsch zahlreicher Zuschauer will der NDR seine vor gut einem Jahr erstmals ausgestrahlte Dokumentation „Die Akte Gysi“ erneut zeigen. Das empfindet der Porträtierte als Zumutung.
Gysi geht jetzt gegen den Film vor. Mit seinem Unterlassungsverfahren bei der Pressekammer des Hamburger Landgerichts bleibt er seiner Linie treu. Er hat stets beteuert, alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien haltlos. Das sagte er auch vor dem Plenum des Bundestages am 28. Mai 2008: „Ich hatte Gespräche mit dem Zentralkomitee, der führenden Kraft der DDR. Ich brauchte keine Kontakte zur Staatssicherheit. Sie waren gar nicht nötig, entsprachen weder meinem Stil noch meiner Würde.“ Erfahrungen seiner Mandanten in der DDR legten schon immer Zweifel nahe. Nun erschüttert zusätzlich ein Dokument aus Beständen der Stasi-Unterlagen-Behörde seine Glaubwürdigkeit.
13. März 1989: Der „Spiegel“ druckt ein Interview. Auf sechs Seiten äußert sich ein im Westen kaum bekannter SED-Jurist zum „Recht im SED-Staat“. Es ist Gregor Gysi, der die Verhältnisse in der DDR verteidigt. Zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung ist das Gespräch eine Sensation. Zumal die Fragen der Journalisten durchaus schmerzhaft sind: „Ist die Justiz nur ein Büttel der Staatspartei SED?“ Derlei muss dem 41-jährigen Gysi höchst unangenehm gewesen sein. Denn er ist als Vorsitzender des Rates der Rechtsanwaltskollegien der DDR in Honeckers Staat so etwas wie der oberste Vertreter seiner Zunft.
Um die Verantwortung gedrückt
Gysi hat sein erstes „Spiegel“-Interview rückblickend verklärt. Zum 20. Jahrestag der Veröffentlichung betonte er im Parteiblatt „Neues Deutschland“, welchen Mut es erfordert habe, mit dem im Politbüro verhassten „Spiegel“ so offen zu sprechen. Nach eigenen Angaben habe er im SED-Zentralkomitee (ZK) niemanden gefunden, der den Text vor der Autorisierung gegenzulesen bereit gewesen sei. Jeder habe sich um die Verantwortung gedrückt. „Alle werden gedacht haben: Ich bin doch nicht verrückt, nur damit Gysi hinterher sagen kann, er habe es mir vorher gezeigt. Also machte ich es alleine.“
Allerdings war Gysi offenbar keineswegs auf sich allein gestellt. Nach einem dieser Redaktion vorliegenden Stasi-Vermerk hat Gysi eine Information zu dem Interview unterschlagen. Nur einen Tag nachdem er am 15. Februar 1989 mit dem Ost-Berliner „Spiegel“-Korrespondenten Ulrich Schwarz und dessen West-Berliner Kollegen Axel Jeschke gesprochen hatte, unterrichtete Gysi dem Vermerk zufolge zwei Offiziere der auch für den Justizapparat zuständigen Abteilung XX der MfS-Bezirksverwaltung Berlin.
Die beiden Gesprächspartner, Major Hans Gerischer und Leutnant Uwe Berger, hielten ganz eindeutige Feststellungen fest: „G.(ysi) schätzt ein, dass unabhängig von (dem „Spiegel“-Korrespondenten) Schwarz bei westlichen Journalisten ein verstärktes Interesse an Interviews mit ihm gegeben ist, da er als ,Dissi-Anwalt' verschrien sei.“ Weiter heißt es im Stasi-Dokument über Gysi: „Er machte deutlich, dass entgegen seiner persönlichen Einschätzung gegenüber der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED das Interview für den ,Spiegel' aus Gründen der Unseriosität des Blattes und den damit verbundenen Gefahren für eine ordnungsgemäße Wiedergabe nicht zu gestatten (sei), letztlich aus Gründen der Dialogpolitik anders entschieden wurde.“ Übersetzt bedeutet das: Gysi sei gegen das Interview gewesen und habe nur auf Anweisung mit Schwarz gesprochen.
Sollte das stimmen, wäre Gysi kein Matador gewesen, der sich mutig dem „Spiegel“ gestellt hätte – er wäre vielmehr vom SED-Apparat zu dem Treffen gedrängt worden. Doch darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist: Wie kann Gysi fortan behaupten, er habe nicht „wissentlich und willentlich“ an die Stasi berichtet?
Thomas Strobl (CDU) kennt die Causa Gysi seit Jahren. Der Vorsitzende des Immunitätsausschusses im Bundestag hat auf Bitte von Morgenpost Online die dreiseitige „Information zu Interview Gysis für den ,Spiegel'“ begutachtet. Das Urteil des Juristen ist eindeutig: „Ich bin davon überzeugt, dass er die Abgeordneten über seine Kontakte zur DDR-Staatssicherheit belogen hat. Damit ist er als Volksvertreter diskreditiert.“
Das sieht der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland von Bündnis 90/Die Grünen ähnlich: „Gysi hat in einem theatralischen Auftritt im Bundestag behauptet, es sei unter seiner ,Würde' gewesen, mit der Stasi zu reden – das ist widerlegt.“ Wieland, ebenfalls Rechtsanwalt, ist sich sicher, dass Gysi 1989 an das MfS berichtet hat – und dass der Vermerk echt ist: „Ich sehe keinen Grund, warum die Stasi-Offiziere diese Information hätten fälschen sollen.“ Auch Ulrich Schwarz sagt: „Ich bin nicht überrascht, dass Gysi laut Protokoll kurz nach unserem Interview die Stasi unterrichtet hat.“
Auf Anfrage sagte ein Linksparteisprecher, Gysi habe „weder das von Ihnen angesprochene Interview mit dem ,Spiege' noch andere Interviews mit MfS-Offizieren ,besprochen und ausgewertet'“. Daher seien alle weiteren gestellten Fragen „ohne Belang“. Allerdings habe Gysi seinerzeit „sicher noch am selben Tag mit einem Mitarbeiter der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED telefonisch oder persönlich“ gesprochen, um die Autorisierung des Interviewtextes vorzubereiten – wozu dann aber niemand bereit gewesen sei.
In einer Parteidiktatur wie der DDR war es nicht außergewöhnlich, dass ein Gespräch mit kritischen „ausländischen“ Medien zum Thema für den Geheimdienst wurde. Brisant ist der Vorgang, weil Gysi in einer gerichtlichen Auseinandersetzung möglicherweise die Unwahrheit gesagt hat – vor gut einem Jahr. Am 18. Januar 2011 steht die erste Ausstrahlung der NDR-Dokumentation „Die Akte Gysi“ unmittelbar bevor. Gysi muss annehmen, dass der Film ein weiteres Mal seine MfS-Kontakte thematisieren wird. Aber er weiß nicht, was genau ihn erwartet.
Auf die Goldwaage
Also setzt er eine eidesstattliche Versicherung auf. In dem Schreiben heißt es: „Ich, Dr. Gregor Gysi, weiß, dass die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung strafbar ist. Zur Vorlage bei Gericht erkläre ich hiermit das Folgende an Eides statt.“ Dann kommt der entscheidende Satz: „Ich habe zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemanden wissentlich und willentlich an die Staatssicherheit berichtet.“ Es sind diese 17 Wörter, die für Gysi jetzt ein Problem werden könnten. Denn nach dem Stasi-Vermerk ist diese Aussage falsch. In dem ganz offiziellen Gespräch am 16. Februar 1989 hat Gysi die beiden MfS-Offiziere zweifelsohne über „sonst jemand“ unterrichtet – nämlich über Ulrich Schwarz.
Der NDR teilte Morgenpost Online mit: „Das sind in der Tat sehr interessante neue Dokumente. Natürlich werden wir sehr genau prüfen, inwieweit wir diese Unterlagen für unser langwieriges Presserechtsverfahren mit Gregor Gysi nutzen können.“ Für Wieland ist der Vorgang keine Bagatelle: „Als Anwalt muss Gysi wissen, dass bei einer eidesstattlichen Versicherung jedes Wort auf die Goldwaage zu legen ist.“