Röttgen und die Energiewende

"Die Grünen sind stehen geblieben"

| Lesedauer: 16 Minuten
Ulf Poschardt

Jede Katastrophe hat ihre Gewinner. War die Sturmflut 1962 der Moment von Helmut Schmidt (SPD), so wurde die Reaktorkrise von Fukushima die Stunde für Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU). Morgenpost Online sprach mit ihm über die Energiewende und neues Denken in der Union.

Morgenpost Online: Was waren die ersten Gedanken, als Sie vor genau einem Jahr von dem Erdbeben und dem Tsunami in Japan gehört haben?

Norbert Röttgen: Als die ersten Nachrichten eintrafen, saß ich im Ministerium in Bonn mit einem hohen Beamten zusammen, der vor 25 Jahren in der Abteilung Reaktorsicherheit mit Tschernobyl befasst war. Er war sofort sehr ergriffen und hatte ganz schnell eine Ahnung von der Dimension dessen, was in Japan passiert war. Dessen Gefühl der Beunruhigung übertrug sich auf mich.

Morgenpost Online: Wann war das?

Röttgen: Freitagmittag. Wir haben schnell reagiert und einen Krisenstab eingesetzt. Auf mein insistierendes Befragen hin erklärten die Beamten übereinstimmend, dass mit einer Kernschmelze gerechnet werden müsse. Es stellte sich die Frage, ob man das schon kommunizieren solle, wofür ich mich dann am gleichen Abend noch entschieden habe. Zudem fragten wir uns, ob wir – wie bei Tschernobyl – radiologisch von einem solchen Unglück betroffen sein könnten.

Morgenpost Online: Wann wurde Ihnen klar, dass die Katastrophe in Fukushima auch die politischen Maßstäbe in Deutschland verrücken wird?

Röttgen: Einen Tag später, am Samstag. Da fand mein erster Landesparteitag als Landesvorsitzender in NRW statt, und wir wollten eigentlich über die Schulpolitik sprechen. Aber Fukushima war an diesem Tag das alles überlagernde Thema, auch für die Partei. Am Samstagabend gab es dann ein Treffen im Kanzleramt, wo wir uns schnell die Frage stellten, was diese fürchterliche Katastrophe politisch bedeutet. Spätestens im Verlaufe des Sonntags wurde in verschiedenen Gesprächen immer klarer, dass wir umdenken mussten.

Morgenpost Online: Wie schockhaft war dieser Umdenkungsprozess?

Röttgen: Wir waren sehr berührt von den Ereignissen, aber auch sehr konzentriert. Ich saß am Sonntagabend bei Anne Will und hatte meine Position eigentlich schon gefunden, wollte sie aber in dieser Sendung noch nicht verkünden, weil es mir wichtig war, das erstmalig im CDU-Präsidium zu tun, das am Montagmorgen stattfand.

Dort haben wir uns für das Moratorium entschieden. Wir drückten sozusagen auf die Pausetaste, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen und um unsere Risikobewertung nach dem Eintreten des Restrisikos in Japan, einem Industrieland wie wir, neu vorzunehmen. Ich habe die Reaktorsicherheitskommission mit einer Untersuchung aller Kernkraftwerke beauftragt, und gleichzeitig haben wir mit der Ethikkommission einen Ort geschaffen, an dem gesellschaftliche Pluralität abgebildet werden sollte und um die politische Diskussion intellektuell und kompetent zu begleiten.

Am Ende stand die von der breiten Mehrheit in der Gesellschaft, aber auch in der Partei getragene Entscheidung, schneller als bisher geplant aus der Kernenergie auszusteigen. Wir konnten uns dabei auf das Energiekonzept vom Herbst 2010 stützen, das ein umfassendes, ökonomisch durchdachtes Konzept zum Umstieg auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz beinhaltet. Darauf basiert unsere Energiewende bis heute.

Morgenpost Online: War das besonders schwer für eine langjährige Pro-Atomkraft-Partei wie die CDU?

Röttgen: Zum Teil. Der Einsatz für eine Laufzeitverlängerung noch ein halbes Jahr vor Fukushima war bei vielen sicherlich den politischen Prägungen und Kämpfen vergangener Jahrzehnte geschuldet. Dem wurde durch Fukushima von jetzt auf gleich der Boden entzogen.

Morgenpost Online: Konnte die Basis Ihren schnellen Wandel mit vollziehen?

Röttgen: Ganz überwiegend ja. Viele der normalen Mitglieder hatten schon lange kein echtes Vergnügen mehr daran, an ihrem Stand vor dem Edeka mit strahlenden Gesichtern über die Segnungen der Atomkraft zu sprechen. Ich habe von der Basis für meine Position und dann auch für die energiepolitischen Beschlüsse nach Fukushima sehr viel Zuspruch erfahren.

Morgenpost Online: Sie haben Ihrer Basis viel zugemutet. Neben der Energiewende auch das Ende der Wehrpflicht, die Diskussion über den Mindestlohn und nun eine Frauenquote. Was macht das aus der CDU?

Röttgen: Da sind manche Journalisten aufgeregter als die Parteibasis. Die Union hat sowohl bei der Wehrpflicht wie bei der Kernenergie zu lange an alten Positionen festgehalten. Dadurch war der Übergang abrupt. Nicht nur in der Partei, sondern auch in der publizistischen Begleitung. Vielleicht hätten wir bei beiden Themen die Entwicklung früher absehen können und danach auch handeln müssen. Die Wehrpflicht war in Zeiten des Kalten Krieges richtig. Aber heute kämpfen unsere Soldaten in Afghanistan gegen den internationalen Terrorismus. Das erfordert andere Antworten und neue Strukturen.

Morgenpost Online: Hat diese mangelnde Vorausschau auch mit der mangelnden Denk- und Diskussionsarbeit der Union zu tun?

Röttgen: Es gibt, so würde ich behaupten, in Deutschland ein generelles Diskursdefizit, was die großen Themen unserer Zeit betrifft: Europa, Wachstum, Demografie. Da will ich die Union nicht ausnehmen. Wir müssen stärker bedenken, wie wir uns Deutschland und Europa in den nächsten fünf, zehn Jahren vorstellen. Das sind unsere Gestaltungsräume, und über deren Herausforderungen müssen die Parteien sprechen.

Gerade was dieses künftige Europa betrifft, finde ich es erstaunlich, wie wenig über die konkreten Fragen der Euro-Rettung hinaus über Legitimation, Akzeptanz und Zweck des Europa-Gedankens in Zeiten der Globalisierung diskutiert wird.

Morgenpost Online: Wer ist daran schuld, dass dies in der Union nicht passiert? Der Generalsekretär, der Fraktionschef, die Parteichefin?

Röttgen: Es geht nicht um Schuldfragen. Jeder sollte in seinem Bereich selbst loslegen. Die Kanzlerin sucht zum Beispiel den Bürgerdiskurs über zentrale Fragen wie unser künftiges Wachstum – und das wird sehr gut angenommen.

Morgenpost Online: Was tun Sie?

Röttgen: Mich beschäftigen vor allem zwei Themen intensiv. Nachhaltiges Wachstum in der Verbindung mit Klima und Energie sowie Europa. Ich halte die Wachstumsfrage für eine große Zukunftsfrage. Ich halte Wachstum für notwendig, sowohl global wie national. Aber der neue Wachstumsbegriff muss ein anderer sein: Wir müssen die verbrauchende Ökonomie zu einer intelligenten, Ressourcen schonenden Ökonomie umbauen. So lassen sich Marktwirtschaft und Schöpfungsethik, also ein konservativer Bewahrungsgedanke, verbinden zu einer konkreten Vision – die ganz leicht christdemokratisch zu beheimaten ist.

Auch in der Europa-Frage müssen wir verdeutlichen, wie sehr dieser Kultur- und Lebensraum unsere Versicherung dafür ist, um in der Globalisierung politisch, ökonomisch und kulturell zu überleben. Vor 30 Jahren war Europa ein Friedensprojekt. Das ist es heute in diesem Sinne nicht mehr, jedenfalls nicht ausschließlich.

Morgenpost Online: SPD und Grüne tun sich leichter, bei ihren Denkmanövern Verbündete bei den Intellektuellen zu finden.

Röttgen: Das war vielleicht mal so, ist es heute aber sicher nicht mehr. Die Grünen sind soziologisch und intellektuell eine stehen gebliebene 68er-Partei mit ganz wenig jungen Mitgliedern. Die handelnden Personen entstammen dem Personal der Regierung Schröder – ohne irgendeine neue Idee oder gar ein neues grünes Projekt für heute.

Morgenpost Online: Die Heinrich-Böll-Stiftung ist die beste parteinahe Stiftung in Deutschland.

Röttgen: Dem widerspreche ich erstens. Und zweitens sehe ich nicht, wo deren Arbeit in die Partei eindringt. Bei der SPD ist es ähnlich. Die kommt in den Debatten doch überhaupt nicht mehr vor.

Morgenpost Online: Aber bei der CDU ist es doch noch viel deprimierender. Da wurde in den letzten 20 Jahren jeder mögliche Anknüpfungspunkt zu neubürgerlichem Zeitgeist verpasst – zum Teil haarsträubend fahrlässig, wie im Fall eines Konrad-Adenauer-Stipendiaten wie Florian Illies.

Röttgen: Es ist doch erfreulich, dass auch im kulturellen Milieu inzwischen ein großes Potenzial für die CDU liegt, das wir aktivieren können und stärker aktivieren sollten, das stimmt.

Morgenpost Online: Bei den Grünen kracht es vor allem auch wegen der Koalitionsfrage mit der Union. Amüsiert Sie dieser Streit?

Röttgen: Schon. Wenn die Grünen heute über neue Koalitionsoptionen reden, haben manche Angst, die verbliebenen Traditionswähler zu verschrecken.

Morgenpost Online: Das heißt, die Grünen haben die Probleme, die die Union jetzt hinter sich hat, vor sich?

Röttgen: Die Debatten um Europa sind auch in der CDU noch nicht abgeschlossen. Der Unterschied zu den Grünen besteht aber zum Beispiel darin, dass sie sich bislang viel weniger als wir daran getraut haben, mit alten Tabus zu brechen. Vielleicht ist es eben nicht so, dass Opposition regeneriert, sondern dass die Regierungstätigkeit die Phase ist, die Parteien zur Auseinandersetzung mit der Realität zwingt und darauf eine programmatische Antwort geben zu müssen.

Morgenpost Online: So wie das Rot-Grün beispielhaft gemacht hat: mit dem Kosovo-Einsatz der Bundeswehr, Steuersenkungen und Hartz-Reformen.

Röttgen: Ja genau.

Morgenpost Online: Sie sind mit 17 Jahren in die Partei eingetreten. Wie radikal hat sich die Partei seither verändert in den 30 Jahren?

Röttgen: Die Wirklichkeit hat sich radikal verändert. Als ich Anfang der 80er-Jahre Spaß an der Politik fand, ging es um die Stationierung von nuklearen Kurzstreckenraketen in Deutschland, in der DDR und im Westen, Nato-Nachrüstung, Warschauer Pakt gegen Nato. Nach dem Wegfall dieses Konfliktes ist die Beschleunigung und Verdichtung durch die Globalisierung an die Stelle gerückt, die komplett neue und andere Antworten verlangt. Trotzdem kann man sich im Wandel der Zeiten treu bleiben. Die CDU ist sich treu geblieben – aber wir suchen stets neue Antworten.

Morgenpost Online: Müssten Sie – auch aufgrund der Schwäche der FDP – viel stärker sein – als Alleinvertretung des Bürgerlichen, bei 40 Prozent plus x?

Röttgen: 40 Prozent in einem zergliederten Parteiensystem sollten wir uns zutrauen. Ich finde, unsere 37, 38 Prozent, die wir gegenwärtig haben, gehen in die richtige Richtung.

Morgenpost Online: Ist der Niedergang der FDP für Sie auch erfreulich?

Röttgen: Nein. Wir wünschen uns im eigenen Interesse, dass die FDP wieder stärker wird.

Morgenpost Online: Das hat man der Unionspolitik im Bund nicht angemerkt.

Röttgen: Die Ursachen für die Entwicklung der FDP liegen sicher nicht bei der CDU.

Morgenpost Online: Hat Ihr Kollege Finanzminister nicht bewusst die FDP gequält?

Röttgen: Das ist doch abwegig.

Morgenpost Online: Freuen Sie sich auf die große Koalition nach 2013?

Röttgen: Ich freue mich auf die Fortsetzung unserer Regierungstätigkeit.

Morgenpost Online: Hat die Kandidatenkür von Joachim Gauck das Koalitionsklima vermiest?

Röttgen: Die CDU ist eine regierungserfahrene Partei. Sie weiß mit solchen Vorgängen klug umzugehen.

Morgenpost Online: Auch mit dem Frosch-Witz des Vizekanzlers über Angela Merkel? Wie finden Sie Philipp Röslers Humor?

Röttgen: Vielleicht hat Philipp Rösler inzwischen auch eine eigene kritische Distanz dazu entwickelt.

Morgenpost Online: Sie haben mit Rösler zuletzt die Solarsubventionen drastisch gekürzt. Wie harmonisch war da die Zusammenarbeit?

Röttgen: Gut. Der angebliche Gegensatz von Wirtschaft und Umwelt ist überholt und falsch. Es sind Zwillingsthemen. Unsere gute Zusammenarbeit hat deswegen programmatischen Charakter – wir hätten sie allerdings deutlich früher beginnen sollen.

Morgenpost Online: Die Solarlobby spricht von einem Todesstoß für die Solarenergie?

Röttgen: Diese Proteste gab es exakt so schon vor zwei Jahren, als ich die verfehlte Subventionspolitik meines Vorgängers beendet habe. Auch da wurde die Todesglocke geläutet. Es gab Demonstrationen, die Opposition lärmte. Das ganze Programm.

Seit Beginn meiner Amtszeit hat der Gesetzgeber zur Entlastung der Bürger die Vergütungssätze für Fotovoltaik um mehr als die Hälfte gesenkt. Und gleichzeitig hatten wir insgesamt einen Zubau von rund 15.000 Megawatt. Einen dauerhaften Zubau in dieser Größenordnung können wir uns allerdings nicht leisten – nicht zuletzt aus Gründen der Netzstabilität.

Morgenpost Online: Weil es zu viel Strom gibt?

Röttgen: Lokal und regional könnte das eben eintreten. Wir haben jetzt 25.000 Megawatt installierte Leistung, das ist die Leistung von 25 Großkraftwerken, die knallen in die Netze, wenn die Sonne scheint, und sind wieder raus, wenn eine Wolke kommt. Doch das Netz braucht eine konstante Spannung, sonst kollabiert es. Unsere Reform ist auch ein Schritt, die Stromversorgungssysteme zu stabilisieren. Diejenigen, die jetzt für mehr Vergütung und mehr Zubau eintreten, sind in Wahrheit die schlechten Freunde der Fotovoltaik.

Morgenpost Online: Sind die dem Wirtschaftsminister zu weit entgegengekommen?

Röttgen: Nein. Das ist mein Vorschlag. Fotovoltaik ist eine Gegenwarts-, aber mehr noch eine Zukunfts- und Exporttechnologie. Deshalb müssen wir es hier anders machen als in der Unterhaltungselektronik. Da haben wir sehr viel erfunden und zu wenig in Deutschland angewendet.

In der Energiepolitik und bei den erneuerbaren Energien erfinden wir sehr viel und haben bislang auch sehr viel wirtschaftliche Anwendung, Wertschöpfung und Arbeitsplätze geschaffen. Das muss so bleiben, aber nur, wenn diese Technologie nach und nach vom Subventionstropf runterkommt. Und zwar in dem Maße, wie der Markt das erlaubt. Und darum brauchen wir Marktintegration. Das ist der einzige Weg, um dauerhaft die Energiewende zu schaffen.

Morgenpost Online: Was fehlt, ist ein Konzept zum Ausbau der Stromnetze.

Röttgen: Wir haben einen klaren Plan, aber wir sind hier mit den Sünden der Vergangenheit konfrontiert – nicht nur der Politik, sondern auch der Unternehmen. Wir werden das Problem der Netzanbindungen lösen und bis zum Sommer einen Bedarfsplan für das ganze Bundesgebiet vorlegen. Am Ende steht ein Bundesnetzplan als Gesetz.

Morgenpost Online: Noch kurz ein Wort zu Christian Wulff. Wie hat die Affäre die politische Kultur verändert?

Röttgen: Es hat Amt und Politik geschadet, aber jetzt besteht die Chance, Vertrauen zurückzugewinnen.

Morgenpost Online: Wer wird noch in die Politik gehen, wenn er damit rechnen muss, dass jede Jugendsünde skandalisiert wird?

Röttgen: Man darf in der Demokratie nicht wehleidig sein und als Politiker schon gar nicht. Demokratie und die res publica sind unser aller Angelegenheit. Wenn mir etwas nicht gefällt an Stil und Inhalten, dann ist dies keine Entschuldigung, mich nicht zu beteiligen, sondern ein Grund, mich zu engagieren und es besser zu machen. Dennoch gibt es in Anlass dafür, dass wir alle, Journalisten wie Politiker, uns im Nachgang zur Wulff-Affäre über einige Stileinbrüche ernsthafte Gedanken machen sollten.

Morgenpost Online: Wird die Republik zu protestantisch mit ihrer Moralhuberei? Was sagt der Katholik Röttgen dazu?

Röttgen: Die Katholiken haben einen besonders sympathischen, offenen Lebenszugang, das stimmt. Grad der Rheinische sagt natürlich, „man muss auch jönne könne“. Aber es hat ein paar Punkte gegeben, die waren kritikwürdig. Um das ganz vorsichtig zu formulieren, auch als Katholik.