Nach dem Sieg beim Volksentscheid konnte Bahn-Chef Rüdiger Grube nicht einmal drei Wochen der Hoffnung anhängen, beim umstrittensten Bauprojekt der Nation werde nun alles rund laufen. Ein kaum daumengroßer Käfer hat die Zuversicht des höchsten Bahn-Managers schon 19 Tage nach der Abstimmung wieder zunichte gemacht:
Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat Stuttgart 21 vorläufig gestoppt , weil es womöglich den Juchtenkäfer und einige Vogel- oder Fledermausarten gefährdet. Die Bahn kann gegen das Urteil nicht einmal Widerspruch einlegen: Eine Revision ist nicht zugelassen.
Experten rechnen nun mit Verzögerungen von bis zu drei Monaten. Der zentrale Bestandteil des Milliardenprojekts liege ohne diese Grundwasservorarbeiten für die nächsten Wochen auf Eis, heißt es. Die Bahn gab sich allerdings demonstrativ gelassen. Die Arbeiten am vom Gericht kritisierten Grundwassermanagement wurden zwar bis zur abschließenden Entscheidung des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA), das für Genehmigungen zuständig ist, ausgesetzt.
Aber in einer Stellungnahme hieß es umgehend, dass die für Januar geplanten Maßnahmen wie der Abriss des Bahnhofssüdflügels oder die „Freimachung des Baufeldes im Mittleren Schlossgarten“ von dem Urteil „unberührt“ seien und „unverändert umgesetzt werden“.
Hartnäckiger Widerstand gegen das Milliardenvorhaben
Doch die Empörung der Gegner dürfte nach der Gerichtsentscheidung noch heftiger werden als ohnehin erwartet. Bisher hatten die Bahn, aber auch die Politik und die Befürworter von Stuttgart 21 gehofft, dass der lange Zeit hartnäckige Widerstand gegen das Milliardenvorhaben durch das eindeutige Volksvotum bröckeln würde und sich die Lage endgültig beruhige. Davon ist nun kaum mehr auszugehen.
Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hat von der Bahn bereits verlangt, alle geplanten Arbeiten abzublasen. Sein Sprecher Hannes Rockenbauch verlangte vom baden-württembergischen Finanzminister Nils Schmid (SPD), dem der Bahn vorgelegten Gestattungsvertrag seine Unterschrift zu verweigern. Ohne diesen Vertrag dürfen im Schlossgarten keine Bäume gefällt werden.
„Das Urteil zeigt, dass Stuttgart 21 weder fertig geplant noch genehmigt ist“, sagte Rockenbauch. Auch der Rechtsanwalt Tobias Lieber, der den BUND vertritt, bezweifelt, dass die Bahn im Schlossgarten weiterbauen darf. Das Gericht stelle generell infrage, ob die Bahn und das Eisenbahn-Bundesamt den Artenschutz bei der Planung des Tiefbahnhofs ausreichend berücksichtigt haben, sagte er. Solange das EBA keine Maßnahmen zum Artenschutz festgelegt habe, könne im Stuttgarter Schlossgarten kein Baum mehr gefällt werden.
Der Streit dreht sich um eine Klage des BUND. Die Naturschützer, deren Chefin Brigitte Dahlbender bis vor Kurzem auch Sprecherin des Aktionsbündnisses war, hatten gegen das sogenannte Grundwassermanagement der Bahn geklagt. Ihr Vorwurf: Die Bahn habe das Wassermanagement einfach umgeplant, ohne den BUND einzubeziehen. Durch die veränderten Pläne würden aber Tiere unter anderem im Schlossgarten gefährdet. Das sieht der Verwaltungsgerichtshof ähnlich:
Die Einwände der Naturschützer zum Schutz bedrohter Arten seien nicht berücksichtigt worden. Für die endgültige Entscheidung des Eisenbahn-Bundesamtes werden nun weitere Auflagen zum Artenschutz erwartet. Dem will die Bahn entgegenkommen.
Ohne das Grundwassermanagement kann es kein Stuttgart 21, also keinen unterirdischen Durchgangsbahnhof geben. Die neue Station soll in einer weitgehend wasserfreien Grube liegen, das Gebiet, in dem der Bahnhof liegt, ist jedoch sehr feucht. In ihren ersten Planungen hatte die Bahn beantragt, drei Millionen Kubikmeter Wasser zu entnehmen, um die Erde trocken zu halten und wieder in den Untergrund einzuleiten. Doch nach Baubeginn wurde klar: Diese Menge reicht bei Weitem nicht. Also legte die Bahn einen veränderten Bauplan beim Eisenbahnbundesamt vor. Danach sollen in der siebenjährigen Bauzeit 6,8 Millionen Kubikmeter abgepumpt werden.
Nötig ist dafür eine Grundwasseranlage mit riesigen blauen Tanks im Schlossgarten, dort, wo vor einem Jahr nach dem Wasserwerfereinsatz die ersten Platanen gefällt worden waren. Eine 1000 Quadratmeter große Halle mit Filter- und Pumpanlagen sowie Auswertungs- und Steuerungstechnik wurde bereits aufgebaut. Auch dabei hatte es mehrfach Demonstrationen und Widerstand gegeben. Zur Anlage gehören 17 Kilometer Rohrleitungen, teilweise am Boden, teilweise in 4,5 Meter Höhe. Ein Kilometer wird durch Wohngebiet verlegt. Das Grundwassermanagement sorgt für die Reinigung des bei den Bauarbeiten anfallenden Oberflächen- und Grundwassers. Dieses geht als Trinkwasser wieder in den Wasserkreislauf zurück.
Juchtenkäfer als unscheinbares Insekt
Das Eisenbahn-Bundesamt hatte die Umplanung für dieses Management Ende April 2011 ohne Anhörungsverfahren genehmigt, woraufhin der BUND klagte und jetzt recht bekam: Die Veränderung des Grundwassermanagements sei rechtswidrig und nicht vollziehbar.
Der Juchtenkäfer, auch Eremit genannt, ist ein unscheinbares Insekt: Er wird bis zu vier Zentimeter groß und lebt in Baumhöhlen, die er nur selten verlässt. Er ist nützlich, weil die Larven faule Stellen im Inneren des Baumes fressen und so die Ausbreitung von schädlichen Pilzen verhindern. Die vom Aussterben bedrohte Art steht europaweit unter strengem Schutz.