Bundestag

Euro-Rettung - Abgeordnete verlieren Überblick

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Gilbert Schomaker

Foto: Jörg Krauthöfer

Vor dem neuen Euro-Gipfel in Brüssel stimmt heute der Bundestag über die Ausgestaltung des EFSF-Krisenfonds ab. Doch die Euro-Rettung kommt auf 1578 Seiten daher. Da fällt es vielen Abgeordneten schwer, den Überblick zu behalten.

Als Frank Steffel Dienstag früh in sein Büro kommt, hat sich die Arbeit über Nacht verdoppelt. Zu den zwei dicken Leitz-Ordnern sind zwei weitere dicke Aktenordner hinzugekommen. Auf 1578 Seiten kann der Berliner Bundestagsabgeordnete der CDU alles über die geplante Euro-Rettung nachlesen. Seit zwei Jahren beschäftigt sich der Reinickendorfer Unternehmer als Mitglied des Finanzausschusses schon mit der Finanzkrise. „Doch in diesen Tagen wird man von den Ereignissen und politischen Fragestellungen überholt“, sagt Steffel.

Zwei Stunden sind es noch bis zur Sitzung der Bundestagsfraktion von CDU und CSU. Dort will Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Details der Überlegungen zur Erweiterung des Rettungsschirms erklären. Zwei Stunden, in denen ein Abgeordneter keine Chance hat, vier Aktenordner durchzuarbeiten. Selbst wenn er vom Fach ist.

„Man muss dann Prioritäten setzen“, sagt Steffel. Ein Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten, der sich zu 80 Prozent seiner Arbeitszeit nur mit dem Euro beschäftigt, arbeitet Steffel zu. „Man ist dann aber auch selbst gefordert, sich einzuarbeiten.“ Doch selbst das Informationsmaterial für die Bundestagsabgeordneten ist häufig nur schwer zu verstehen. Da sind zum einen die schwierige Wirtschaftssprache und das komplexe Thema. „Zum anderen stammen viele Dokumente von der EU und sind nur holprig ins Deutsche übersetzt“, sagt Steffel. Da hilft auch die Kurzversion nichts – 152 Seiten, auf denen das Material noch einmal präzise zusammengefasst ist.

Auch auf Deutsch noch ausreichend verwirrend

Um dieselbe Zeit am Dienstagmorgen bekommt auch der CSU-Abgeordnete Max Straubinger Papier auf den Schreibtisch. Er greift direkt zu den „Terms of reference“, dem eigentlichen Beschluss zu den Aktenordnern an Material. Die vier Seiten sind nicht weniger kompliziert als das Hintergrundmaterial. Denn darauf werden die zwei aktuellen Modelle beschrieben, wie der Euro-Rettungsschirm mithilfe eines Kredithebels sein Volumen in Billionenhöhe treiben könnte. Trockene Finanzmaterie.

Deshalb konnte Straubinger auch nichts mit der englischen Version anfangen, die bereits zuvor im Umlauf war. „Aber das geht selbst Leuten so, die sehr gut Englisch sprechen.“ Die „Terms of reference“ sorgen auch auf Deutsch noch für ausreichend Verwirrung. Auf ihrer Grundlage stimmen die Bundestagsabgeordneten heute über den EFSF-Hebel ab.

Da nicht jeder Bundestagsabgeordnete auch Finanzfachmann sein kann, aber über Hunderte Milliarden Euro abstimmen soll, wird die Verantwortung verlagert. „Wir verlassen uns bei den Details auch auf die Berichterstatter der Fraktionen, die noch viel tiefer in der Materie stecken“, sagt Steffel. Er setzt sich für die Stärkung des Rettungsschirms über eine Versicherungslösung ein. „Das ist durchdacht und klug“, so Steffel, der dem Vorhaben zustimmen wird. Doch viele Fragen bleiben, auch für den Reinickendorfer CDU-Politiker. Weil Steffel im Finanzausschuss des Bundestags sitzt, hat er den Vorteil, dass er die Antworten aus erster Hand bekommt.

Doch noch am Dienstagmorgen wussten viele Parlamentarier nicht, was sie da eigentlich entscheiden. Einige dachten, es gehe bereits darum, zwei konkrete Hebelmodelle abzusegnen. Tatsächlich wird aber nur der Verhandlungsstand der Beamten in Brüssel zusammengefasst. Danach sind zwei Varianten für die EFSF denkbar, die sich auch ergänzen könnten (siehe rechts). Doch viele Details sind noch offen. So haben sich die Euro-Staaten bisher nicht geeinigt, mit wie viel Prozent die Anleihen denn abgesichert werden können. Bei der Abstimmung im Bundestag geht es deshalb vielmehr darum, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein Mandat für die Verhandlungen beim EU-Rat am Mittwochabend zu erteilen. Einerseits erhält Merkel die parlamentarische Zustimmung, in Brüssel einem Hebel zuzustimmen. Andererseits zeigen ihr die Abgeordneten rote Linien auf, die sie dabei nicht überschreiten darf.

Allerdings verlangt die erneute Befassung den Abgeordneten einiges ab. Bis 14 Uhr hatte der Gesundheits- und Sozialexperte Straubinger keine Gelegenheit, das Papier zu studieren. Das Parlament hält für den Euro nicht den Betrieb auf. Um 15 Uhr traten am Dienstag die Fraktionen zu ihren Sitzungen zusammen. Zumindest da sollte dann informiert werden.

Jeder Abgeordnete entscheidet für sich selbst

In der Sitzung der Unionsfraktion gerieten die Skeptiker gegenüber einer Euro-Rettung mit Hebel überraschend stark in die Defensive. Der Abgeordnete Wolfgang Börnsen, eigentlich kulturpolitischer Sprecher, ergriff das Wort und ging die sogenannten Abweichler hart an. Es sei „unerträglich“, von diesen nun wieder in den Medien zu hören, noch bevor der Entschließungsantrag überhaupt vorgelegen habe. Wer sich der Euro-Rettung verweigere, falle damit seinen Fraktionskollegen und der Kanzlerin in den Rücken. Überhaupt solle man zur Sitte zurückkehren, intern kontrovers zu diskutieren, aber geschlossen abzustimmen.

Dem widersprach Wolfgang Bosbach. Der prominenteste Kritiker der Rettungsschirme kündigte an, auch diesmal wieder dagegenzustimmen. Bosbach lieferte sich mit Börnsen dann ein regelrechtes Wortgefecht darüber, ob es sich bei der Abstimmung um eine Gewissensentscheidung handele. Nein, meinte Börnsen, dies sei eine wichtige, aber doch gewöhnliche Sachfrage. Doch, erklärte Bosbach, jeder Abgeordnete entscheide selbst, was für ihn eine Gewissensentscheidung sei.

Entscheiden muss also jeder allein. Aber zumindest beim Verstehen verlassen sich einige Abgeordnete doch auf ihre Kollegen. Das Entscheidende, so Straubinger, lerne man ohnehin nicht aus offiziellen Papieren. „Das Wichtigste sind die Gespräche mit den Kollegen. Hier klärt sich vieles.“

Und Steffel, den beschäftigt die Finanzkrise nicht nur im Bundestag. Beim Parteitag der Reinickendorfer CDU am Dienstagabend treffen sie aufeinander: die große Finanzwelt mit den Milliarden von Euro, über die Steffel mitentscheiden soll, und die kleine Finanzwelt, die die Menschen direkt betrifft. Die CDU in Reinickendorf beschließt an diesem Abend, dass im Bezirk ein Sonderfonds eingerichtet werden soll, damit die Schulen schnell und unbürokratisch an Geld kommen. Die Höhe des Fonds beträgt 20.000 Euro pro Jahr.

mit jhi/ralex/tsv