Gesundheitsminister Bahr möchte für die Pflegeversicherung ein Reformmodell mit deutlicher FDP-Handschrift durchsetzen, doch die CSU leistet Widerstand.

Als Daniel Bahr in den Hof des Altenwohnheims St. Lamberti in Münster tritt, wird er kaum beachtet. Das mag an Bahrs Körpergröße liegen, die nicht gerade dem Gardemaß entspricht, an seinem Alter von 34 Jahren, das ihn als Enkel der alten Menschen erscheinen lässt, die in St. Lamberti wohnen.

Oder auch daran, dass er, der Bundesgesundheitsminister, schlicht noch zu unbekannt ist. Als Bahr jeden begrüßt, der im schattigen Innenhof sitzt, reagieren die Heimbewohner erstaunt. „Sie sind der Herr Bahr?“, fragt ein älterer Herr.

Der Minister ist gekommen, um sich anzuschauen, worüber die schwarz-gelbe Koalition in der nächsten Woche verhandeln wird: die Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Auf dem Programm steht die Reform der Pflegeversicherung. Es ist eins der großen Projekte der Regierung Merkel in dieser Legislaturperiode.

Kutschfahrten in die Innenstadt

Bahr bittet den Pflegedienstleiter Reinhold van Weegen, ihm zu erklären, was am dringendsten benötigt wird, und der lässt sich zwei Wünsche entlocken: „Weniger Dokumentationspflichten und mehr Pflegepersonal.“ Während van Weegen den Minister durchs Heim führt, erzählt er leidenschaftlich davon, wie seine Kollegen und er versuchen, den Bewohnern die letzten Jahre so schön wie möglich zu gestalten.

Er berichtet von Kutschfahrten in die Innenstadt, zeigt die Dekoration der Zimmer und Flure mit frischen Blumen und erzählt von den für Bewohner und Pfleger so wichtigen Ritualen, wenn einer der alten Menschen gestorben ist. Immer wieder kommt van Weegen aufs Geld zu sprechen. Ohne bessere Finanzierung kein Personal, ohne Personal keine gute Betreuung. Sein Fazit: „Wir müssen mehr Geld haben.“

Minister Bahr hört sich das alles aufmerksam an, aber versprechen kann er nichts. Nicht mehr Geld und auch sonst nichts, was durch die Pflegereform besser werden könnte. Denn noch ist überhaupt nicht klar, in welche Richtung die Reform gehen wird.

Bahrs FDP, die CDU und die CSU haben grundsätzlich verschiedene Vorstellungen. Vereinbart waren im Koalitionsvertrag zwei große Ziele: Erstens sollen die Pflegekassen durch eine zusätzliche Kapitalreserve ergänzt werden, die individuell für jeden Versicherten angelegt wird. Zweitens soll es neue Maßstäbe geben, nach denen bei alten Menschen die Pflegebedürftigkeit beurteilt wird.

Bis Sommerende sollen Eckpunkte der Reform vorliegen

Das soll vor allem dementen, also altersverwirrten Menschen helfen, die heute oft keine Leistungen aus der Pflegekasse bekommen, weil sie körperlich meistens noch relativ fit sind. Darüber hinaus wollen die Koalitionäre die Pflege zu Hause gegenüber der Pflege im Heim stärken und pflegende Angehörige stärker unterstützen.

Wie viel von diesen Zielen tatsächlich umgesetzt werden kann, wird sich in der nächsten Woche zeigen, wenn in Berlin der Politikbetrieb wieder aus der Sommerpause erwacht. Dann sollen die Spitzen der Koalition die ersten Weichen stellen.

„Das wird von den Parteichefs entschieden“, heißt es auf der Ebene der Gesundheitspolitiker der Koalition. „Wir haben da gar nichts zu sagen.“ Die Zeit drängt: Bahr hat versprochen, bis zum „Ende des Sommers“ Eckpunkte zur Reform vorzulegen.

Da die Parlamentsferien nun vorbei sind, soll hilfsweise der kalendarische Sommer herhalten, und der endet am 22. September. Bahr lässt ausrichten, er halte daran fest, doch in der Union erwartet man diesen Monat lediglich „Arbeitsergebnisse“. Eckpunkte oder gar ein konkretes Modell für eine Kapitalreserve soll es im Oktober geben.

Schon jetzt gibt es Überlegungen dafür, die das Plazet der Kanzlerin haben, und die ein Kompromiss zwischen den drei Parteien sein könnten. Der Minister macht sie sich nicht zu eigen, er lässt sie aber auch nicht dementieren. Die FDP-Fraktion lehnt sie per Pressemitteilung ab. Die CSU verwirft sie als völlig untauglich, und die gesetzlichen Krankenkassen stehen Kapitalreserven ohnehin skeptisch gegenüber.

Bahr kann sich mit der Pflegereform profilieren

Die Pflegereform ist für Bahr äußerst wichtig. Sie ist das einzige große Gesetz, mit dem sich der im doppelten Sinne junge Minister vor der nächsten Bundestagswahl profilieren kann. Gerade deshalb soll sie eine FDP-Handschrift tragen.

Sonst kann Bahr auch die letzte Hoffnung begraben, nach der Wahl 2013 noch einmal Gesundheitsminister zu werden, wie er es jüngst noch behauptet hat. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Philipp Rösler (FDP) übt er das Amt immerhin gern aus, jahrelang schon hat er sich mit Gesundheitspolitik befasst, allerdings nur in der Opposition.

Aus der Position des kleinen Koalitionspartners eine große sozialpolitische Reform durchzusetzen und das noch gegen die Unionsparteien, die sich in der Gesundheitspolitik selbst nicht einig sind, ist ein anderes Kaliber.

In der nächsten Woche wird Bahr erstmals direkt mit CSU-Chef Horst Seehofer über die Pflegereform sprechen. Den bayerischen Ministerpräsidenten hat der Westfale Bahr als seinen ärgsten Widersacher identifiziert,

Seehofer hat schon Rösler bei der Gesundheitsreform das Leben zur Hölle gemacht. Mindestens ebenso viele Gedanken wie auf die Inhalte der Pflegereform verwendet Bahr deshalb darauf, zu überlegen, wie er Seehofer taktisch ausspielen kann.

Bahr spricht nebulöse Sätze

Zur Audienz nach München reisen, wie es Rösler tat, und danach düpiert in die Hauptstadt zurückkehren, das wird Bahr jedenfalls nicht passieren. Dafür ist er zu machtbewusst.

Als Bahr jüngst eine Handvoll Journalisten in seine Heimatstadt Münster eingeladen hatte, war der Druck zu spüren, der auf ihm lastet. Als Landesvorsitzender der FDP in Nordrhein-Westfalen mischt er noch in der Führungsdiskussion seiner Partei mit, gleichzeitig muss der Euro gerettet werden.

Eine unübersichtliche Gemengelage mit keinen guten Voraussetzungen für eine Sozialreform. Bahr kommt einstweilen noch damit über die Runden, dass er Sätze sagt, die man drehen und wenden kann, ohne aus ihnen schlau zu werden.

„Gute Pflege ist nicht zum Nulltarif zu haben“ ist so ein Satz. Eine Selbstverständlichkeit, aber in der Diskussion um eine Pflegereform kann er als Hinweis auf steigende Beiträge verstanden werden – wenn man das will. Bahr kann sich darüber freuen, denn er legt sich damit nicht fest. Irgendwann aber muss er Farbe bekennen.

Seehofer treibt quer

Noch hält der Minister seine Karten eng am Mann und sagt nichts, was über den Koalitionsvertrag hinaus geht, denn er sitzt zwischen allen Stühlen. Seine Partei hat sich frühzeitig darauf festgelegt, dass der Beitragssatz in der Pflege vorerst nicht steigen darf. Ebenso frühzeitig hat die CDU signalisiert, dass sie bereit ist, genau diese Beitragssteigerungen zuzulassen. Und dann ist da noch die CSU.

Deren Vorsitzender Seehofer will zwar – wie die FDP – keine Beitragserhöhung, aber die Forderung der Liberalen nach einer ergänzenden Kapitalbildung, die mit der CDU zu machen wäre, lehnt er komplett ab.

Stattdessen orakelt Seehofer von einem völlig neuen Gesetz, das dazu führen würde, dass behinderte Menschen, die jetzt Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommen, diese Leistungen künftig aus Steuergeld bezahlt bekommen. Seehofers Ziel: Die Pflegekassen finanziell entlasten. Beitragssteigerungen soll es so nicht geben.

Wie schon bei der Gesundheitsreform sagt Seehofer selbst zunächst nichts, sondern schickt zuerst seine Fachminister vor. In diesem Fall die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer: „Eine zusätzliche Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung wäre nicht zielführend“, sagt sie.

Demenz als Zeitbombe für die Pflegeversicherung

„Das ist letztlich doch nur eine verdeckte Beitragserhöhung mit zusätzlichem enormem Bürokratieaufwand.“ Die größte Herausforderung die Demenz. Bei den derzeitigen Prognosen, wonach in zwanzig Jahren jede zweite Frau und jeder dritte Mann davon betroffen sein wird, „ist die Demenz eine Zeitbombe für die Pflegeversicherung.“

Deshalb müsse es ein „Bundesleistungsgesetz“ geben, das die Pflegeversicherung „finanziell von den schwersten Risiken entlasten“ soll. „Ich habe die Eckpunkte dafür bereits fertig und könnte sie jederzeit vorlegen“, sagt Haderthauer. Konkret soll das Gesetz enthalten: die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die demenzspezifischen Leistungen sowie die Leistungen, die Schwerstpflegebedürftige in Härtefällen über die Pflegestufe III hinaus bekommen.

„Eine Einigung der Spitzen der Koalition in der kommenden Woche auf einen Grundkonsens für die Reform der Pflegeversicherung halte ich für möglich“, behauptet Haderthauer – wenn Minister Bahr und der Rest der Koalition der CSU folgen. Es scheint also alles auf eine große Konfrontation hinauszulaufen.