Winfried Kretschmann musste es als grüner Ministerpräsident sehr rasch lernen: Die Zeiten, da er frei von der Leber weg reden konnte, sind endgültig vorbei. Jetzt hören alle mit sehr spitzen Ohren auf jedes seiner Worte.
Als Kretschmann nach der Wahl, noch nicht einmal im neuen Amt vereidigt, die Vokabeln „Porschefahren“ und „pornografisch“ in einem Atemzug benutzte und überhaupt für weniger Autos auf der Straße plädierte , hatte das umgehend eine kleine Panik im Autoländle Baden-Württemberg losgetreten.
Stuttgart 21 nur am Rande gestreift
Auf solche Empfindlichkeiten haben die Jahre auf der Bank der kleinsten Oppositionsfraktion offenkundig nicht recht vorbereitet. In seiner ersten Regierungserklärung gab Kretschmann daher betont den konzilianten Wirtschaftsfachmann. Er präsentierte Vorschläge für Produktlinien, Konzepte und Strategien, wie Baden-Württemberg zum bundesweiten Musterland für ökologisches Wirtschaften werden könnte.
Stuttgart 21 dagegen streifte der Ministerpräsident nur am Rande, den umstrittenen Zukauf des Energiekonzerns EnBW erwähnte er zur Überraschung vieler überhaupt nicht.
Umso mehr bemühte sich Kretschmann, der Industrie im Land die Hand zur Versöhnung auszustrecken, ohne dabei die Positionen seiner Partei komplett zu verraten. Auch für die anstehende Debatte über den Länderfinanzausgleich versprach der grüne Realpolitiker „Kooperation statt Konfrontation“.
Ökologisch-soziale Erneuerung statt politischer Revolution
Für Mindestlöhne dagegen, eine stärkere Steuerbelastung hoher Einkommen und Vermögen sowie für den beschleunigten Atomausstieg will das Land unter seiner Führung in Berlin lautstark trommeln.
Ökologisch-soziale Erneuerung statt politischer Revolution, so soll also das Motto der neuen grün-roten Landesregierung lauten. Dringlich mahnte der Ministerpräsident, wie schon so oft, dass Ökonomie und Ökologie keine Gegensätze sein müssten. Der frühere Studienrat für Biologie, Chemie und Ethik versprach, Baden-Württemberg alsbald zum Modellland umzubauen, in dem umweltschonende Produkte für Nachfrageschub sorgen und Jobs sichern. „Wir zeigen, dass es geht und wie es geht.“
Die Industrie beobachtet derzeit mit Spannung und teilweise Sorge, wie sich die neue Landesregierung positioniert. Die mächtigsten Konzerne und Mittelständler im Land haben Kretschmann durch die Bank längst eingeladen, um seine Positionen abzuklopfen. Und bei zahlreichen war der grüne Realpolitiker, der die Grünen im Land vor gut 30 Jahren mitgegründet hatte, auch bereits zu Gast.
Vor allem der Autozulieferer Bosch , zu dessen 125. Geburtstag Kretschmann jüngst die Grußworte der Regierung überbracht hat, fand sein Wohlwollen für die geleisteten „unternehmerischen und technischen Basisinnovationen“.
Ohne Weiterentwicklung und Forschung, beispielsweise in spritsparende Motoren und Elektromobilität, seien weder Arbeitsplätze noch die Umwelt für die Nachwelt zu erhalten, so Kretschmann. Doch zugleich beruhigte er alle besorgten Automanager: „Der Verbrennungsmotor wird bis weit in die kommenden Jahre hinein eine nach wie vor tragende Rolle spielen.“ Und seine Regierung wolle auch keinem Menschen vorschreiben, welches Auto er kaufen solle. Bei steigenden Benzinpreisen und wachsender Verkehrsdichte würden „schwere Spritfresser“ aber wohl schon bald von selbst zu „Ladenhütern“.
Kretschmann kritisiert Schuldenberg nach 58 Jahren CDU-Regierung
Ansonsten arbeitete sich Kretschmann, der kürzlich 63 Jahre alt wurde, im Wesentlichen unaufgeregt durch den vereinbarten Koalitionsvertrag von Grünen und SPD. Gleiche Bildungschancen für alle, mehr frühkindliche Förderung, weniger Leiharbeitsplätze, mehr Mitsprache für die Bürger, eine bessere Migrationspolitik – selbst die frischgebackene Opposition aus CDU und FDP fand erst nach mehr als der Hälfte der 75 Minuten langen Rede einen Anlass für Zwischenrufe, dann allerdings in fast ungläubiger Empörung.
Der Ministerpräsident hatte moniert, das Land stehe nach 58 Jahren CDU-Regierung vor einem „gewaltigen Schuldenberg“, dessen Höhe die neue Regierung noch gar nicht recht abschätzen könne. Dabei ist die CDU im Südwesten traditionell besonders stolz auf die Wirtschafts- und Finanzdaten im Land, das sie fast sechs Jahrzehnte lang gemanagt hat.
Mappus mit schmerzverzerrtem Gesicht
Es hatte zu den wichtigsten Argumenten im Wahlkampf der Union gehört, dass die bisherige Haushaltsstabilität nur von Schwarz-Gelb zu gewährleisten sei. Das alles wischte Kretschmann vom Tisch, als er der CDU „verdeckte und verschobene Lasten“ in Milliardenhöhe vorhielt.
Der bisherige Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) zog ein schmerzverzerrtes Gesicht, Peter Hauk, Fraktionschef der Union, protestierte aufgeregt, als Kretschmann dann auch noch auf wachsende Pensionsrückstellungen und Sanierungsrückstände im Milliardenbereich bei Universitäten, Krankenhäusern und Landstraßen hinwies.
„Die vordergründige Optik sieht gut aus“, ließ Kretschmann gelassen alle Proteste abprallen, „aber wenn man alle verdeckten Lasten berücksichtigt, steht Baden-Württemberg auf dem letzten Platz aller Flächenländer.“ Es sei sogar noch ungewiss, wie tief das Land wirklich in der Kreide stehe. Vor der Sommerpause soll ein „Kassensturz“ präsentiert werden.
CDU will Grünen beim Thema Volksentscheid nicht helfen
Zum Schluss appellierte der Regierungschef an die CDU, als stärkste Landtagsfraktion die Hürden für Volksentscheide zu senken. „Es geht nicht darum, uns den Gefallen zu tun. Es geht darum, den Menschen in unserem Land einen Gefallen zu tun.“
Grüne und SPD sind uneins über den Bau des Tiefbahnhofs Stuttgart 21 und wollen den Streit mithilfe einer Volksabstimmung lösen. Das Quorum liegt derzeit bei 33 Prozent. Das bedeutet, dass ein Ausstieg aus dem Projekt gescheitert wäre, wenn nicht mehr als 2,5 Millionen Baden-Württemberger dafür stimmen. Die CDU will den Grünen nicht entgegenkommen. Es komme nicht infrage, den Grünen dabei zu helfen, Stuttgart 21 zu verhindern, sagte Fraktionschef Hauk weiter.
Grundsätzlich kritisierte die Opposition die Regierungserklärung als wenig aussagekräftig und polemisch. „Ich habe viel Lyrik gehört, aber wenig Konkretes, was über den Koalitionsvertrag hinausgeht“, so Hauk. Kritisiert wurde auch, dass Kretschmann zu Stuttgart 21 fast nichts gesagt hatte. Der Landeschef hatte nur betont, das Thema bleibe kontrovers. Die Koalition habe sich jedoch auf ein gemeinsames Verfahren geeinigt und werde sich „daran halten“.