Berliner Straßenwahlkampf, Teil 3 der Serie

Björn Böhning kämpft einsam um jeden Kopf

| Lesedauer: 8 Minuten
Hajo Schumacher

Foto: Massimo Rodari

Berlin im Straßenwahlkampf: In diesen letzten Tagen vor der Bundestagswahl kämpfen die Kandidaten der Parteien auf den Straßen um jede Stimme. Ein hartes Geschäft. Unser Autor Hajo Schumacher hat fünf von ihnen begleitet. Heute: Björn Böhning wirbt in Friedrichshain-Kreuzberg für sich und kämpft damit in der grünen Hochburg von Hans-Christian Ströbele.

Kreuzberg döst noch, als Björn Böhning mit dem iPhone am Ohr an der Kreuzung Ritterstraße Ecke Alexandrinenstraße steht. Der SPD-Politiker ist ungehalten.

Eigentlich hätten seine Wahlkampfhelfer einen Stand aufbauen sollen, direkt vor Kaiser's, mit Buntstiften, Linealen, Kugelschreibern, dem ganzen Programm zur zarten Wählerkorruption. "Viele Traditionswähler hier", murmelt Böhning. Aber kein Wahlkampfstand. "Wir dachten, das ist um zehn", zitiert er die Entschuldigung der Genossen.

Es ist zehn nach zehn. Die Jusos haben offenbar ein Mobilisierungsproblem. Na gut. Fällt der Wahlkampf eben aus in diesem sozial problematischen Viertel, was schade ist, weil gleich gegenüber von Kaiser's eine nagelneue Turnhalle liegt, auf dem Gelände der Waldorfschule. Das wäre ein guter Anknüpfpunkt für Gespräche gewesen, ein Zeichen des Aufbruchs für notorische Beschwerdeführer, die am Sonnabendmorgen schlechte Laune am Wahlstand abkippen.

"Dann eben zum Ostkreuz", entscheidet der Kandidat. Er weist den schnellsten Weg nach Friedrichshain. "Ich kenne meinen Kiez." Er wohnt in Kreuzberg und spielt Handball bei Rotation, erklärt er sofort, um jegliche Authentizitätszweifel zu verscheuchen. Am Ostkreuz stehen zwei Jusos wie Wachmänner an einer Unterführung. Wer zur S-Bahn will, muss hier durch. Der Friedrichshainer schläft allerdings auch noch. Böhning schnappt sich einen Stapel Flyer. Aber der Absatz stockt. Einige Touristen mit Rollkoffern ("We are from Denmark") nehmen das dargereichte Päckchen, nicht nur wegen des Kulis, sondern wohl auch, weil sie glauben, das bunte Faltblatt berge Rabattgutscheine.

Der Grüne Ströbele ist hier der Platzhirsch

Björn Böhning wirkt müde. Kein Wunder. Er hat wahrscheinlich den engagiertesten Wahlkampf aller SPD-Kandidaten gemacht, den perfektesten, modernsten, digitalsten, zielgruppenorientiertesten im schillerndsten Wahlkreis der Republik. Im Menschenzoo Kreuzberg-Friedrichshain regiert der Grüne Hans-Christian Ströbele, der sein Markenzeichen, das Rad, bisweilen im Auto von oder nach Charlottenburg transportiert. Ströbele ist 70, findet Computer doof, will Sozialleistungen erhöhen, ist ansonsten erst mal dagegen und hat den Wahlkreis schon zweimal gewonnen. Was die CSU für Bayern, ist Ströbele für Kreuzberg: Widerstands-Folklore mit Tattooladen-Spieß.

Ein linker Sozialdemokrat wie Böhning steht in Kreuzberg schon unter Rechts-Verdacht. Wenn er auf dem Podium erklärt, dass der Kreuzzug gegen Besserverdienende etwas kurzsichtig sei, weil irgendwer schließlich die Staatskasse füllen müsse, dann ist der Applaus nur spärlich. "Gentrifizierung" lautet das Totschlagargument, jede frisch gestrichene Fassade steht unter Spekulationsverdacht. Statt miteinander Strategien zum Kiez-Erhalt zu entwickeln, werden Autos abgefackelt. Böhning sieht die Demokratie in Gefahr, wenn die Gesinnungspolizei an Macht gewinnt. Angst verbreiten, mobben, brandschatzen - das ist Glatzen-Stil. Wer Arbeit hat und Familie plant, will mit Haudraufs nicht leben. Die Jungbürgerlichen, das sind seine Wähler, hofft Böhning. Der SPD-Kreisverband im Viertel ist der am schnellsten wachsende in Deutschland, 30 neue Mitglieder in zwei Monaten bei insgesamt 300, das ist Rekord.

Aber der Wahlkreis will sich nicht gewinnen lassen, jedenfalls nicht an diesem Morgen. Nahen Jusos mit Infomaterial, hebt das Jungvolk meist abwehrend die Arme, als wolle jemand ihnen eine Qualle in die Hand drücken. Andere sagen "Hallo". Man kennt sich aus der Uni, vom Amt, aus der Kreativindustrie. Menschen mit Computern, die sich von Projekt zu Projekt hangeln, bilden eine weitere Zielgruppe: "Solo-Selbstständigen-Sicherung" ist ein wichtiges Thema auf einem digitalen Arbeitsmarkt, den wenige Millionäre und viele Tagelöhner in Schwung halten.

Nächster Einsatzort: der Rewe-Parkplatz am Forckenbeckplatz. Die Helfer haben schon einen Schirm aufgestellt und Werbematerial ausgebreitet. Rosen für Mutti, Trinkflaschen ("Auf den Inhalt kommt es an") für die Kinder, Traubenzuckerbeutel für gerechten Lohn und gestresste Väter. Böhning streift über den nahen Spielplatz. Junge Mütter haben Schutzinstinkte und wählen SPD schon aus Mitleid. Der Kandidat wird seine Rosen zügig los. Eine junge Frau fragt nach dem Wahlprogramm. Das passiert selten. Unter all dem Werbezeug findet sich tatsächlich ein Heft. Sie habe immer SPD gewählt, sagt die Frau, aber da werde zu viel gezankt, und es passiere zu wenig im Umweltschutz. Jetzt denke sie daran, etwas anderes zu wählen. "Grün?", fragt Böhning düster. Sie nickt. Also, da könne er nur abraten, sagt der SPD-Kandidat. Beim Thema Atom sei ja wohl der Minister Gabriel weit vorn, der - ganz nebenbei - hier auch schon zu Besuch war. Und das energetische Sanierungsprogramm für Kitas sei auch SPD. Die Frau nickt beeindruckt, Böhning zufrieden. Das könnte geklappt haben.

Der Kampf um jeden Kopf ist oft ein Zufallsgeschäft. Wie macht man Wahlkampf für arme Rentner und Migranten, für Werber und Autonome, für einen Kiez, in dem sich jeder als irgendwie total individuell versteht? Böhning hat das Anderssein professionalisiert: Er hängt eigene Plakate mit gezeichnetem Konterfei, die sich von den Pfannkuchenfotos der anderen SPD-Kandidaten wohltuend abheben. Er hat ein "Wahllokal" eröffnet, in dem Interessierte sich informieren oder abhängen können.

Prominenz stärkte Böhning den Rücken

Böhning ist bei Twitter und Facebook, hat eine halbwegs ordentliche Webseite. Er zieht durch Friseursalons, lädt türkischstämmige Multiplikatoren zum Ende des Ramadan zu sich nach Hause ein, züchtet Augenringe auf abendlichen Kneipenaktionen. Für den Vorwahlsonnabend hat er eine Vote-Party organisiert, von wo aus Feier-Profis direkt zur Urne schwanken können.

Kein Kandidat hat so viel Prominenz in seinen Wahlkreis geschleift: Klaus Wowereit war da, sein Chef, für den er im Planungsbüro sitzt, außerdem Innensenator Körting, Bildungssenator Zöllner, Altmeister Momper, und dann: Gabriel, Steinmeier, Müntefering, Nahles natürlich, seine Vorgängerin als Juso-Chefin. Böhning ist Perfektionist und gut verdrahtet. Eben das aber könnte ein Problem sein in einem Wahlkreis, dessen Markenzeichen das Abgeschabtsein ist. Wowereit hatte Böhning für verrückt erklärt, sich gegen Ströbele aufzureiben. Aber der junge Sozialdemokrat "hat keine Lust zu warten, bis ich mich nach oben gesessen habe".

Gäbe es ein Handbuch mit goldenen Wahlkampfregeln, Böhning erfüllte neun von zehn. Mögen die Leute das? Oder fällt er auf die Nase, was nicht wenigen Genossen gefallen würde, denen Böhnings Schwung unheimlich ist. "Risiko", sagt er, schnappt sich Flugblätter und bricht zur nächsten Runde auf.

Aber er kommt nicht weit. Ein älteres Ehepaar lauert schon: Nächstes Jahr hätten sie goldene Hochzeit, erzählen die beiden, dann solle die Merkel auch eine Feier ausrichten wie für Ackermann - und die Schmidt erst mit ihrer Unterschlagung und die Renten und alles. Beim Führer seien sie betrogen worden, in der DDR auch, und jetzt wieder. Da müsse sich endlich was ändern, grundsätzlich. Böhning fragt, ob es persönlich schlecht gehe. "Nöö", sagen die Rentner, "kein Grund zum Meckern." Na, dann schönen Einkauf noch. Böhning guckt dem Paar gequält nach und murmelt: "So sind sie, die Wähler."

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