Links der Straße ein großer See, der in der Sonne glitzert. Ein Mann fischt, Kinder springen vom Ufer fröhlich ins Wasser. In der Ferne erkennt man die Häuser eines Dorfes, das mitten in einer Ebene liegt, die auch im heißen Juni noch saftig grün wirkt. Eine ländliche Idylle, in der man unwillkürlich an Urlaub denkt.
Dabei fand hier in Taldu, einem Vorort der Stadt Hula, bisher das schrecklichste Massaker des seit 16 Monaten andauernden Bürgerkriegs in Syrien statt. Am 25. Mai wurden hier 108 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, ermordet.
Der Fahrer weigert sich weiterzufahren. Er imitiert mit den Händen ein Gewehr und macht „Bumm, bumm“. Aber das syrische Militär lässt ohnehin niemanden durch. „Weiter als bis hier kommen sie nicht, wir wollen doch nicht, dass man sie erschießt“, erklärt ein kräftiger Mann mit Glatze im Stützpunkt am Ortseingang.
Es folgt eine Schimpftirade auf Deutschland, die USA, Katar und Saudi-Arabien. Sie unterstützten die Freie Syrische Armee (FSA), die auch Taldu besetzt hält. Plötzlich zieht der Glatzkopf seine Trainingshose runter und weist auf mehrere große Schussnarben an der Hüfte, am Oberschenkel und an den Beinen. „Sehen sie! Von wegen Freie Armee, das sind keine Menschen“, brüllt er laut. Trotz aller Lautstärke bleiben seine Augen ausdruckslos, kalt. Unwillkürlich denkt man: Er könnte dabei gewesen sein, als die Menschen in Taldu ermordet wurden.
Kontroverse über die Hintergründe des Massakers
International wird die Regierung von Baschar al-Assad für das Massaker verantwortlich gemacht. Zahlreiche Staaten zogen danach ihren Botschafter aus Syrien ab, darunter Deutschland. Doch nun gibt es eine Kontroverse über die Hintergründe des Falls.
Anfang Juni erregte ein Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Aufsehen, in dem angebliche Zeugen behaupteten, Rebellen hätten das Massaker begangen. Die Getöteten seien in Wahrheit Schiiten gewesen, so wie Präsident Assad, der wie ein großer Teil der syrischen Elite der schiitischen Glaubensrichtung der Alawiten angehört. Damit hätten sie den Hass der Rebellen auf sich gezogen.
In dieser Woche hielt der „Spiegel“ dagegen. In Taldu hätten ausschließlich Sunniten gelebt, heißt es dort. Und Überlebende sagten, Männer in Uniform hätten die Taten verübt. Das erklärten auch Zeugen gegenüber der Menschrechtsorganisation Human Rights Watch. Aber Militärkleidung tragen mitunter auch Rebellen – manche haben sie erbeutet, andere sind desertierte Soldaten. In diesem Krieg gibt es keine Regeln und nur sehr wenige Gewissheiten.
Offenheit bedeutet in Syrien den Tod
Das Kloster zum heiligen Jakob liegt etwa 90 Kilometer von der Hauptstadt Damaskus entfernt mitten in der syrischen Wüste. Die Gebäude aus cremefarbenen Felssteinen mit Spitzbögen, Säulengängen und schattigen Hinterhöfen beherbergen Gartenanlagen mit Blumen- und Gemüsebeeten.
Als die libanesische Nonne Agnès-Mariam de la Croix das Kloster in den 90er-Jahren besuchte, war es fast eine Ruine. Sie hat es in mühevoller Arbeit wieder aufgebaut. Etwa 20 Nonnen und Mönche aus Syrien, dem Libanon, aus Frankreich, Belgien und den USA leben nun hier. Doch seit Beginn des Bürgerkriegs finden sie kaum noch Gelegenheit zur Einkehr. Das Kloster nimmt bereitwillig Flüchtlinge jeden Glaubens auf und ist ein Treffpunkt für die Christen der Region. Hinter den Mauern des Jakobsklosters fühlt man sich sicher und traut sich, über Dinge offen zu sprechen, die draußen den Tod bedeuten würden.
Auch Dschibril (Name geändert) ist jetzt hier. „Von ihm wussten wir als Allererste, dass das Massaker nicht von der syrischen Armee begangen wurde, sondern von den Rebellen“, sagt Schwester Agnès-Mariam. Er habe die Gräuel miterlebt und das Kloster noch am gleichen Tag informiert. Dschibril ist die Nervosität deutlich anzumerken. Sollte nur eine Information nach draußen dringen, die auf seine Identität schließen lässt, wäre er ein toter Mann. Trotzdem erzählt er, langsam und mit bedächtigen Worten, seine Version des 25. Mai in Taldu.
Eine andere Version der Ereignisse in Taldu
„Die Kämpfe begannen um die Mittagszeit, als die Rebellen aus Ar-Rastan und Saan kommend, die Checkpoints der Armee um Hula angriffen“, erzählt der Mann Ende dreißig. Die Stellung am Ortseingang unweit des Krankenhauses wurde als Erstes überrannt. Die Soldaten flohen, und die Rebellen gingen ins Krankenhaus und töten dort Patienten. Warum, weiß er nicht und genauso wenig, wie viele Menschen getötet wurden. Dann seien verschiedene Trupps gezielt in ausgewählte Häuser gegangen und hätten angefangen, all ihre Bewohner zu erschießen. „Den Nachbarn taten sie nichts“, erinnert sich Dschibril.
Von den zwei getöteten Familien kannte er die Sajids persönlich. „Sie waren Sunniten, wie alle bei uns“, versichert er. „Man hat sie umgebracht, weil sie bei der Revolution nicht mitmachen wollten.“ Man habe ja auch die Angehörigen eines Parlamentsabgeordneten getötet, der auf seine Kandidatur bei den Wahlen Anfang Mai bestanden und den Boykott der FSA verweigert hatte. „Nach dem Massaker haben die Rebellen alle Leichen in die Moschee gebracht“, sagt Dschibril. Auf die Frage, ob die regimetreuen Milizen der Schabiha die Menschen massakrierten, hebt Dschibril nur den Kopf und schnalzt landesüblich mit der Zunge. „Vollkommener Quatsch“, sagt er.
Wer Taldu einmal gesehen hat, dem kommen Zweifel an den Berichten, denen zufolge mehrere Hundert Soldaten und Assad-Anhänger ohne Gegenwehr ins Dorf gekommen seien. Hula ist seit Dezember 2011 in Rebellenhand. Taldu liegt auf freier Fläche, wo es kaum Möglichkeiten gibt, Deckung zu suchen. Das Dorf ist mit Maschinengewehren und Panzerfäusten leicht zu verteidigen. Die Armee würde Taldu gern zurückerobern, hat es aber bisher nicht geschafft.
„Natürlich wissen viele Leute in Hula, was wirklich passiert ist“, sagt Dschibril. Doch alle fürchteten um ihr Leben. „Wer dort jetzt den Mund aufmacht, kann nur die Version der Rebellen wiedergeben. Alles andere ist der sichere Tod.“