Vor einem Jahr schrieb die Tokioter Fotografin Hiromi Iguchi, 33, in der „Morgenpost Online", wie sie die Tage nach dem Erdbeben, dem Tsunami und den Reaktorunglücken von Fukushima erlebt hatte . Sie schrieb über die ersten Stunden des Chaos, die Angst vor den Nachbeben und die wachsende Sorge um die hohen Strahlenwerte nach der Kernschmelze im Atomkraftwerk. Seit Dezember lebt sie mit ihrem Mann Phil in London.
Morgenpost Online : Sie haben Japan verlassen und sind nach London gezogen. Warum?
Hiromi Iguchi : Die Entscheidung fiel nicht nur wegen der Katastrophen seit dem 11. März. Wir hatten schon länger geplant, aus Japan wegzugehen, aber das Erdbeben hat uns dann darin noch bestärkt.
Vor allem die Unsicherheit hat uns sehr zu schaffen gemacht, die vielen Nachbeben und auch, dass wir nie wirklich wussten, was in den Kraftwerken vor sich ging. Ich genieße es sehr, jetzt ohne Angst zu leben und auch, dass ich mir keine Gedanken mehr um verstrahltes Essen machen muss. Ich kenne viele, die uns darum beneiden ...
Morgenpost Online : … und Japan auch gern verlassen würden?
Iguchi : Ja. Einige unserer ausländischen Freunde haben das auch getan. Andere sind zumindest weiter in den Süden gezogen, wie ein Kollege von mir. Aber das kann eben nicht jeder. Gleichzeitig fühle ich mich auch schuldig, dass ich meine Familie, meine Freunde alleinlasse.
Vor allem als es am 1. Januar dann wieder ein größeres Erdbeben gab und eine Freundin mir schrieb, dass es in dem Atomkraftwerk, an dem sie wohnt, danach Probleme gab.
Morgenpost Online : Wie hat sich denn das Leben seit der Katastrophe in Tokio verändert?
Iguchi : Damals, in den Wochen nach der Katastrophe, hatte ich das Gefühl, dass sich etwas grundlegend verändert hat, dass auch wir Japaner uns verändert hätten. Erst war es einfach nur ein totaler Schock. Das Erdbeben, der Tsunami, der Atom-GAU.
Es hat recht lange gedauert, bis sich alles wieder etwas normalisiert hatte. Die Lichter, die in Tokio sonst alles überstrahlen, die Reklameschilder, die Automaten, aber auch die Bahnhöfe, die Züge – so vieles blieb dunkel oder war nur noch ganz spärlich beleuchtet. Das ging teilweise bis September, Oktober.
Damals waren wir alle überzeugt, wir müssten nachhaltiger mit unseren Ressourcen umgehen, mehr Strom sparen. Anfangs gab es ja auch noch Demonstrationen gegen Atomenergie. Aber das ebbte bald ab. Die Medien berichteten sowieso kaum darüber. Und im Dezember hing dann selbstverständlich überall Weihnachtsbeleuchtung – kein Unterschied zu früheren Jahren.
Morgenpost Online : Und was blieb dann?
Iguchi : Bei vielen von uns vor allem die Sorge um unser Essen. Die Regierung hat viel Vertrauen zerstört, als sie erst behauptete, man könne das Gemüse aus den betroffenen Regionen weiteressen – was ich auch getan habe –, und dann später hieß es, es sei doch hoch belastet gewesen. Bis heute machen sich viele Menschen Sorgen.
Manche reagieren fast paranoid auf die Frage, woher ihr Gemüse und die frischen Lebensmittel kommen. Eine meiner Freundinnen hat ein kleines Kind. Sie kauft kein Gemüse und Obst mehr im Supermarkt, sie bestellt es direkt aus dem Süden Japans.
In Japan vergessen die Leute einfach zu schnell. Wenn man bedenkt, wie riesig die Hilfsbereitschaft für die Opfer in den Katastrophengebieten am Anfang war, so viele haben Spenden gesammelt oder sind als freiwillige Helfer in die Katastrophengebiete gefahren.
Morgenpost Online : Gibt es das jetzt nicht mehr?
Iguchi : Schon im Sommer wurden es immer weniger, die sich engagiert haben. Vielleicht ist das auch normal. Wir müssen weiterleben – und das fällt mit dem Gefühl, dass das Leben aus den Angeln gehoben ist, einfach zu schwer. Ich selbst bin mit einer Hilfsorganisation im Juli fünf Tage nach Onagawa in der Präfektur Miyagi gefahren, wo der Tsunami gewütet hatte. Wir haben Hausrat, Kleidung und alles, was die Menschen so brauchen, hingebracht. Damals waren das zum Beispiel dunkle Anzüge für die vielen Beerdigungen.
Morgenpost Online : Und wie sah es dort aus?
Iguchi : Ich war gewarnt worden, dass es nicht wie im Fernsehen aussehen werde, aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Die Straßen waren furchtbar schlecht, eigentlich gar nicht mehr vorhanden. Es gab keine Schilder, so viele Häuser waren zerstört, verlassen oder ganz weg. Es hat furchtbar gestunken, weil es ja Sommer und heiß war. Die Menschen dort waren immer noch schwer traumatisiert. Manche haben alles verloren.
Nicht einmal Fotos haben sie noch von ihren Angehörigen. Die meisten lebten noch in Schulen und Hallen. Einige hatten provisorische Zelt?unterkünfte. An einem Abend sind wir mit dem Auto durch eine der zerstörten Städte am Meer gefahren.
Der Vollmond war das einzige Licht. Die Gebäude sahen aus wie Gerippe – ich dachte, ich bin in einem Gruselfilm. Trotzdem versinken die Menschen dort nicht in Selbstmitleid, sie schauen nach vorn. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie schaffen die das nur?
Morgenpost Online : Was machen Sie am Sonntag?
Iguchi : Ich wäre eigentlich gern nach Tokio geflogen für die Gedenkveranstaltungen. Aber das hat jetzt nicht geklappt. Eine meiner Freundinnen hier in London organisiert ein Musik- und Künstlerevent zum Gedenken, und ich werde wohl dort hingehen.