Fukushima

Die Angst der Japaner vor verstrahlten Landsleuten

| Lesedauer: 11 Minuten
Daniel Krieger

Fukushima-Flüchtlinge werden in den Nachbarprovinzen diskriminiert. Viele Japaner fürchten sich vor Radioaktivität, die die Evakuierten angeblich ausstrahlen.

Michiyo Ishizukas dachte eigentlich, dass ihr Leben wieder halbwegs normal sei. Bis zu dem Vorfall in dem Restaurant. Nach dem Erdbeben vom 11. März 2011 und der Atomkatastrophe von Fukushima, Ishizukas Heimatstadt, wurde ihr versichert, für alle, die außerhalb der Evakuierungszonen lebten, gebe es keinen Grund, wegzuziehen. Keine Gefahr. Ishizuka bekam eine neue Unterkunft.

An manchen Wochenenden machte sie Ausflüge mit ihrer kleinen Tochter, um zumindest für kurze Zeit einmal alles hinter sich zu lassen. An einem dieser Samstage betritt sie mittags gemeinsam mit ihrer Tochter ein Restaurant in Niigata, einer Stadt an der Westküste. Aber bevor sie sich setzen können, fragt der Besitzer, woher sie denn kämen.

Ishizuka erzählt es ihm, woraufhin der Mann sie höflich bittet, sein Restaurant zu verlassen – sie könnten Radioaktivität ausstrahlen.

"Wir nannten uns Meerschweinchen"

Da wusste Ishizuka, dass sie wegmusste aus Fukushima. Ja, sie hatte ein neues Haus bekommen, und schon einen Monat nach dem Erdbeben konnte sie ihr eigenes Restaurant, das sie 17 Jahre lang geführt hatte, wieder öffnen. Nach der Demütigung in Niigata wurde Ishizuka jedoch hellhöriger. Sie erfuhr von gefährlich hohen Strahlungswerten und sorgte sich um ihre Tochter.

Aber keine andere Präfektur wollte sie aufnehmen, sie hatte ja schon eine neue Unterkunft akzeptiert. Damit galt Ishizuka als „freiwillig Evakuierte“, und für die gibt es wenig Mitgefühl und noch weniger Chancen.

Nach verzweifelter Suche das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer über hatte sie noch immer keine Lösung gefunden. „Wir nannten uns Meerschweinchen, weil wir wie Versuchstiere mit all dieser Strahlung um uns herum weiterleben mussten“, sagt Ishizuka.

Es ist wieder Samstag, ein kalter Nachmittag Ende Januar. Ishizuka ist zum Teetrinken eingeladen, in Takarazuka, wo sie seit einer Woche wohnt. Gastgeberin ist die Takarazuka Hilfsorganisation, die zu einer Kette von gemeinnützigen Stiftungen im ganzen Land gehört. Hier, in der Provinz Hyogo, ist die Erinnerung noch frisch an das Erdbeben von 1995, bei dem Tausende Menschen getötet wurden.

Die Direktorin der Hilfsorganisation, Mitsuko Nakayama, veranstaltet diese Zusammenkünfte einmal im Monat, um den neu Angekommenen zu ermöglichen, mit anderen Flüchtlingen in Kontakt zu kommen, aber auch mit Einheimischen, die helfen wollen. Es ist ein Nachmittag mit Tee und Gesprächen, mit mehr Freiwilligen als Vertriebenen. Ishizuka ist noch immer damit beschäftigt, Formulare auszufüllen.

"Keine der Präfekturen wollte mich aufnehmen"

Es sei ein sehr langer Weg bis hierher gewesen, sagt die 39-Jährige. „Weil mein ganzes bisheriges Leben sich in Fukushima abgespielt hat, wollte ich eigentlich nicht so weit wegziehen. Aber keine der benachbarten Präfekturen wollte mich aufnehmen, weil ich schon in ein von der Regierung bereitgestelltes Haus gezogen war.“

Ishizuka war im Herbst auf Takarazuka aufmerksam geworden, deren Bürgermeister sich besonders um das Wohlergehen von Kindern kümmert. Sie wurde sofort akzeptiert und zog Anfang 2012 zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Tochter um.

Ihr vorheriges Leben ließ sie in den Ruinen von Fukushima zurück. Sie habe anfangs Angst vor Diskriminierung gehabt, erzählt Ishizuka. Dann ist sie aber von dem herzlichen Empfang überrascht gewesen.

„Weil Fukushima so weit weg ist, scheinen die Leute hier weniger Furcht vor Verstrahlung zu haben“, sagt sie. Und sie erinnert sich mit Bitterkeit an den Vorfall im Restaurant von Niigata. Dort war die Einstellung gegenüber Evakuierten so negativ, dass einer der Flüchtlinge im vergangenen Frühjahr in einem Blog schrieb: „Wenn ich draußen herumlaufe möchte ich lieber verheimlichen, dass ich aus Fukushima bin.“

Dennoch zählt Ishizuka sich zu denen, die Glück gehabt haben. Es kursieren üble Geschichten über diejenigen, die aus Fukushima evakuiert wurden: von Kindern, die in ihren neuen Schulen schikaniert wurden; von Evakuierungszentren, die Flüchtlinge abwiesen, weil sie nicht schriftlich belegen konnten, dass sie „strahlungsfrei“ sind; von Hotels, die sich weigerten, die angeblich Verstrahlten für eine Nacht aufzunehmen.

„Alle meine Bekannten hatten solche Erfahrungen“, erzählt Ishizuka. „Ich habe so viele dieser Geschichten gehört, dass sie mir schon fast wie das ganz normale Leben vorkamen. In den Zeitungen wurde erklärt, dass in Fukushima alles sicher ist, aber Leute aus der Region wurden behandelt als hätten sie eine ansteckende Krankheit.“

Ausgestoßenen, weil die Menschen Angst hatten

Kurz nach dem Beben brachten einige japanische Zeitungen Kommentare, in denen „grundlose Gerüchte“ und die „Drangsalierung“ der Vertriebenen verdammt wurden. Das erinnerte viele Japaner an das, was Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki jahrzehntelang widerfahren war: Sie wurden zu Ausgestoßenen, weil die Menschen Angst hatten, ihnen zu nahe zu kommen.

Sie mussten ihre Vergangenheit verschweigen, um überleben zu können. Es gab sogar eine Bezeichnung für sie, Hibakusha, was so viel heißt wie „von der Explosion betroffene Leute“. Nach Fukushima tauchte der Begriff plötzlich wieder auf.

Dennoch gibt es Unterschiede zu damals, zumindest in Regierung und Verwaltung wird „Strahlungsdiskriminierung“ heute schärfer geahndet. So führte die Stadt Tsukuba im April vergangenen Jahres ein, dass alle Evakuierten aus Fukushima ihren Status als „strahlungsfrei“ nachweisen mussten.

Das führte zu einer Welle der Empörung, der Bürgermeister musste sich entschuldigen und die Maßnahme wieder zurücknehmen. Sie sei nur eingeführt worden, um die Einheimischen, die Angst vor Verstrahlung hatten, zu beruhigen, gab er zu.

Rücktritt nach Strahlungsscherz

Noch härter traf es im vergangenen September Yoshio Hachiro, Industrie- und Handelsminister in der neuen Regierung von Premier Yoshihiko Noda. Gerade aus Fukushima zurückgekehrt, beschrieb er die Evakuierungszone auf einer Pressekonferenz als „Todesstadt“.

Sein politisches Schicksal besiegelte er dann, indem er scherzend seinen Ärmel an dem eines Journalisten rieb und ihn dabei grinsend warnte, er solle sich vor der Strahlung in Acht nehmen. Er entschuldigte sich danach, aber das kam zu spät: Nach nur einer Woche im Amt musste er zurücktreten.

Öffentliche Bestrafungen wie diese halfen Flüchtlingen wie Chieko Kowata, 30, und ihrem Mann Kazunori, 43, wenig. Sie sitzen ebenfalls in den Räumen der Hilfsorganisation von Takarazuka und trinken Tee – wie so oft, seit ihre Flucht im Mai aus Fukushima sie hierher gebracht hat. Ihre beiden kleinen Kinder spielen.

"Wir wollten so weit wie möglich weg von Fukushima"

Sie hatten viel früher fliehen wollen, aber eine Spedition nach der anderen wies sie ab, aus Angst vor Verstrahlung, bis sich schließlich eine bereit erklärte, den Umzug zu übernehmen. Die Firma habe sie gut behandelt, erzählen die Kowatas – nicht selbstverständlich in den Regionen Tohoko und Kanto, in die viele ihrer Bekannten geflohen waren und wo diese stigmatisiert worden seien.

„Deswegen sind wir hierhergekommen, wir wollten so weit wie möglich weg von Fukushima“, sagt Kazunori Kowata. „Hier scheint es keine Diskriminierung zu geben.“ Seine Frau erzählt, in Tohoko und Kanto würden die Autos mit Kennzeichen aus Fukushima häufig beschmiert und zerkratzt.

Kurz nach dem Erdbeben waren die Kowatas, die 22 Kilometer von dem Daiichi-Reaktor entfernt lebten, bei Verwandten untergekommen. In den folgenden Wochen zogen sie umher, unsicher, was sie als Nächstes tun sollten.

Die Provinzregierung verweigerte Hilfe bei der Evakuierung: Das Haus der Kowatas liege zwei Kilometer außerhalb der Zone für Zwangsevakuierungen, deshalb bestehe überhaupt keine Gefahr, solange sich die Familie drinnen aufhalte und die Fenster schließe.

Doch mit einem damals zwei- und einem dreijährigen Kind wusste das Paar, dass es die Gegend verlassen musste. „Ich glaube nicht, dass wir jemals zurückkehren werden“, sagt Chieko Kowata. „Ich fühle mich da nicht sicher, also ist das hier unser neues Leben.“

"Es ist hart, ganz von vorn anzufangen"

In Takarazuka können sie bis zu zwei Jahre lang mietfrei wohnen, dank der Großzügigkeit der Stadt und der Takarazuka Hilfsorganisation. Sie wurde 1995 nach dem Großen Hanshin-Beben gegründet, das das nahe liegende Kobe erschüttert hatte.

Die Organisation half den Menschen, denen die Regierung nicht mehr helfen wollte oder konnte. Direktorin Mitsuko Nakayama sagt, nach dem „3/11“-Beben sei es nur logisch gewesen, diese Mission fortzuführen. „Ich möchte den Evakuierten, die hier leben, die Möglichkeit geben, sich zu treffen, zu vernetzen und neue Freunde kennenzulernen. Es ist sehr schwierig und hart, ganz von vorn anzufangen.“

Das Großartige sei, dass so viele ganz normale Leute aus der Stadt kommen würden, um zu helfen. „Vielleicht können sie nicht nach Fukushima gehen, aber sie wollen etwas für die Opfer tun, und hier können sie es.“

Ihr Ziel ist es, die Neuankömmlinge so in die Gemeinschaft zu integrieren, dass sie schließlich nicht mehr ins Zentrum kommen. Wenn irgendwann nur noch freiwillige Helfer zu den monatlichen Treffen erscheinen, dann weiß Nakayama, dass ihre Arbeit getan ist.

Regierung für "Strahlungsdiskriminierung" verantwortlich

Die meisten Flüchtlinge sagen, sie seien glücklich, endlich eine neue Bleibe gefunden zu haben. Aber einige lässt die Heimat nicht los. Das Haus von Naomi Shima lag innerhalb der Evakuierungszone, nur elf Kilometer entfernt vom Atomkraftwerk.

Die 38-Jährige zog von einem Evakuierungszentrum zum anderen, dann zu Freunden, zu Verwandten, schließlich verschlug es sie im September nach Takarazuka. Sie habe sich wie eine Gesetzlose auf der Flucht gefühlt, erzählt sie. Sechs Monate sei sie mal hier, mal dort gewesen, aber langsam immer weiter nach Westen gezogen, immer weiter weg von Fukushima.

Shima ließ ihren alten Vater zurück, der nicht wegwollte, und musste dafür harsche Kritik von anderen Familienmitgliedern einstecken.

Shima gibt der Regierung die Schuld für die „Strahlungsdiskriminierung“. Deren Weigerung, umfassende Informationen zu liefern, habe zu einer Fülle an Fehlinformationen geführt, und das wiederum habe bei vielen Menschen Angst ausgelöst. „Für meinen Vater ist es sehr schwer, inoffiziellen Informationen zu glauben, die über Twitter, Blogs oder selbst von Mitarbeitern des Kernkraftwerks kommen“, sagt Shima.

Sie weiß, dass er vielleicht bald ihre Hilfe braucht, aber sie kann sich nicht vorstellen, jemals zurückzukehren. „Ich glaube nicht, dass ich das kann“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Ich kann es einfach nicht.“