Am frühen Morgen des 15. März 2011, vier Tage nach dem Megaerdbeben und dem Jahrhundert-Tsunami, macht Japans damaliger Premierminister seinem Spitznamen „Der Zornige“ alle Ehre. Um 5.35 Uhr stürmt Naoto Kan in die Konzernzentrale der Tokyo Electric Power Company, kurz Tepco, im Tokioter Stadtteil Uchisaiwai und brüllt:
„Was zum Teufel geht hier vor?“ Mit dem Wutausbruch reagiert der Regierungschef auf die Anweisung von Tepco-Präsident Masataka Shimizu, das gesamte Personal aus der Atomanlage Fukushima Daiichi abzuziehen und die Rettungsarbeiten einzustellen. Vor 200 Tepco-Angestellten in der Tokioter Leitzentrale stellt der Premierminister klar, dass ein Rückzug ausgeschlossen sei.
Der studierte Physiker warnt die Angestellten vor einer dramatischen Eskalation der Krise. „Japans Überleben steht auf dem Spiel“, ruft Kan. Ohne Kühlung würden schon bald Tausende von abgebrannten Brennstäben voller Plutonium und Cäsium in den Abklingbecken über den Reaktoren in Brand geraten.
Danach müsste Tepco auch die nahe gelegene Atomanlage Fukushima Daini mit weiteren vier Reaktoren aufgeben. In einer „teuflischen“ Kette von ungekühlten Atommeilern entstünden „zehn bis 20 Strahlenquellen“, die jede für sich zwei bis drei Mal so viel Radioaktivität ausspucken würden wie beim Atomunfall in Tschernobyl. Dass dann eine Evakuierung der 35 Millionen Bewohner von Tokio unvermeidlich wäre, spricht der Politiker nicht einmal aus.
Dennoch verfehlt Kans dramatischer Appell seine Wirkung nicht. Zwar werden 600 Arbeiter abgezogen. Doch 50 Männer bleiben, um das Schlimmste zu verhindern. Die „Fukushima 50“ kämpfen mit hoher Strahlung, schweren Nachbeben und Todesängsten.
„Mehrmals dachte ich, ich müsste sterben“, erzählt Betriebsleiter Masao Yoshida später. In einem Tepco-Bericht schildert ein älterer Arbeiter, wie er ein Ventil mit der Hand öffnen musste.
„Aus dem ringförmigen Hohlraum unter dem Reaktor hörte ich einen furchterregenden Lärm, dumpfe Explosionen“, berichtet er. Als er sich auf den Metallwulst stellt, rutscht er ab, weil die Sohlen seiner Gummistiefel durch die Hitze schmelzen.
Erst eine aufwendige Untersuchung der Privatstiftung Rebuild Japan hat das volle Ausmaß der Konfrontation zwischen Tepco und der Regierung enthüllt. „Es war das größte Verdienst von Naoto Kan, dass er den Rückzug von Tepco aus der Atomanlage verhinderte“, fasst Untersuchungsleiter Koichi Kitazawa, Ex-Direktor der Agentur für Wissenschaft und Technik, vergangene Woche das Ergebnis von Interviews mit fast 300 Politikern, Beamten und Managern zusammen. Ansonsten fand Kitazawa kein gutes Wort für Kan. „Die Regierung war fleißig, aber ineffizient.“
Glaube an die absolute Sicherheit der Atomenergie
Die Stiftung kritisiert das Misstrauen zwischen der Regierung und dem AKW-Betreiber und wundert sich, dass die Verantwortlichen der Atomaufsichtsbehörde Nisa kein Fachwissen hatten. Als Ursache macht sie Japans Verwaltungssystem aus, in dem Beamte Generalisten sind und alle zwei bis drei Jahre ihre Stelle wechseln. Bemängelt wird auch die „Panik der Eliten“ als Folge der Überforderung. Expertenchef Kitazawa fällte das harte Urteil:
„Der Grund, warum dieser Unfall so groß und komplex wurde, war der fehlende Verantwortungssinn aufseiten von Tepco und der Regierung.“ Auch andere Untersuchungen stellen Japans Beamten, Politikern, Strommanagern und Nuklearforschern ein schlechtes Zeugnis aus. Danach bestand der eigentliche Fehler darin, dass Politik, Industrie und Aufsichtsbehörden selbst an die absolute Sicherheit der Atomenergie geglaubt haben. Schlimmer noch: Das Desaster war das Resultat absichtlich ignorierter Risiken und keineswegs so unvorhersehbar, wie Tepco behauptet. Das beweist die Rückblende in die Anfangszeit der Atomindustrie.
Japans erster Reaktor wurde vom US-Konzern General Electric geliefert. Dabei übernahm Japan auch die amerikanischen Sicherheitsvorschriften. Jedoch ignorierte man bewusst die Regel, dass ein Atomkraftwerk weit weg von besiedelten Gebieten stehen müsse. Das wurde in Japan doppelt gefährlich, weil bis zu sieben Reaktoren in einem Kraftwerk konzentriert wurden. „Wenn man uns heute sagt, dass diese Entscheidung verantwortungslos war, dann kann ich dagegen nichts sagen“, gab Tetsuro Itakura, damals Mitglied der Kommission für Atomsicherheit, im japanischen Fernsehen zu. Man habe nur an die Vorteile der Atomkraft gedacht.
Außerdem verzichtete Japan auf die US-Richtlinie, alle Anwohner eines Kraftwerks bei einem Unfall sofort in Sicherheit zu bringen. Daher dauerte es nach Ausrufung des atomaren Notstandes einen ganzen Tag, bis die Evakuierung für einen 20-Kilometer-Radius um Fukushima angeordnet wurde. Japans Atomindustrie verhinderte seit den 60er-Jahren alles, was Widerstand gegen die Technologie hätte wecken können.
Die Vorbehalte der Bevölkerung gegen Strahlen waren wegen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki groß. „Wenn wir über mögliche Evakuierungen gesprochen hätten, wären die Anwohner bestimmt gegen den Bau der Kraftwerke gewesen“, sagt Hirofumi Satake, früherer Chefbeamter für AKW-Sicherheit. Also konstruierte Japan konsequent einen Mythos, dass Atomkraftwerke absolut sicher seien und nie Unfälle verursachen.
In einer früheren Tepco-Werbung versprach eine kindliche Stimme ganz freundlich: „Wir verwalten radioaktive Stoffe sicher. Macht euch deswegen keine Sorgen.“ Im Laufe der Zeit machte der Sicherheitsmythos die Atomindustrie selbst blind für die Gefahren. Das bestätigt auch Professor Kunio Yanagida, der die Regierungskommission zur Fukushima-Katastrophe mit leitete: „Das grundlegende Problem ist, dass es zigfaches Wegschauen an allen Ecken und Enden gegeben hat.“
Als Beispiel nannte die Kommission das Atomnotfallzentrum in Fukushima. Nach Tsunami und Erdbeben konnten die Atomaufseher es nicht benutzen. Nicht nur waren die Zugangswege unpassierbar – in der Luftversorgung gab es auch keinen Filter für radioaktive Stoffe.
Die Atomindustrie wollte sich den GAU, den größten anzunehmenden Unfall, einfach nicht vorstellen. Im Handbuch für AKW-Techniker kam daher jenes Szenario nicht vor, das sich am 11. März in Fukushima ereignete:
Erst unterbrach ein Erdbeben die Stromleitungen zum Kraftwerk, dann zerstörte ein Tsunami die Notstromversorgung. Alle Dieselgeneratoren, Schalttafeln und Meerwasserpumpen wurden unbrauchbar.
In den Jahren zuvor hatte Tepco jede Warnung vor hohen Tsunamis vom Tisch gewischt. „Wir glaubten nicht, dass ein Ereignis, das nur alle 10.000 Jahre einmal vorkommt, morgen geschehen kann“, rechtfertigte sich der frühere Vizechef der Tepco-Atomsparte, Yusuke Sawaguchi. „Wir waren einfach von optimistischem Denken beherrscht.“
Auch nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 konnten die AKW-Betreiber schärfere Sicherheitsauflagen verhindern. Schon damals machte sich die Lobbyarbeit der Stromwirtschaft bezahlt. Hohe Beamte aus dem atomkraftfreundlichen Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie wechselten auf gut dotierte Posten bei den Versorgern. Nuklearforscher erhielten Zuschüsse für Studien, Vorträge und Konferenzen.
"Selbstregulierung? So etwas gibt es doch gar nicht"
Den Städten in der Nähe der Atomkraftwerke schenkten die AKW-Betreiber Sportstadien, Museen und Parks. Parlamentsabgeordnete in den Kraftwerksgebieten wurden mit Spenden bedacht. Praktisch für die Konzerne war, dass sie solche Ausgaben bei der Berechnung und Genehmigung des Strompreises geltend machen konnten. Die Extrakosten gingen also zu Lasten der Kunden und schmälerten die Gewinne nicht.
Bei Aktienanlegern waren japanische Energiekonzerne mit ihren hohen Einnahmen aus dem Atomstrom beliebt, weil die Kurse wenig schwankten und hohe Dividenden ausgeschüttet wurden. Der frühere Leiter der AKW-Anlage Fukushima Daini, Kensuke Naeki, gab im TV-Sender NHK zu, dass die Selbstregulierung der Energiebranche nicht funktionierte: „Wir hätten mehr für die Sicherheit getan, wenn man uns gezwungen hätte. Selbstregulierung? So etwas gibt es doch gar nicht.“
Der Politologe Jiro Yamaguchi von der Universität Hokkaido kritisiert, der Lobbyismus gehe einfach weiter: „Die Stromversorger versuchen immer noch, ihren Einfluss geltend zu machen.“ Man solle ihnen verbieten, an Abgeordnete zu spenden, die den Atomunfall untersuchen.
Trotz aller Lektionen hat Japans Regierung bislang wenig Konsequenzen aus ihrem Versagen gezogen. „Statt Einzelnen die Schuld zu geben, sollten alle den Schmerz teilen“, sagte der neue Regierungschef Yoshihiko Noda jüngst. Immerhin wechselt die Atomaufsicht Nisa ab April vom Wirtschafts- zum Umweltministerium. Es fehlen jedoch neue Sicherheitsrichtlinien. Daher halten Kritiker die aktuellen Stresstests in Kraftwerken für wenig sinnvoll.
Offiziell sind die Reaktoren in Fukushima zwar „unter Kontrolle“. Aber ein neues Beben könnte die provisorischen Kühlkreisläufe beschädigen und die instabilen Reaktorblöcke mit ihren Abklingbecken voller Brennstäbe zum Einsturz bringen. Unabhängige Experten verlangen daher Konsequenzen für die ganze Industrie. „Wir haben noch Glück gehabt“, sagt Untersuchungsleiter Kitazawa. „Um die Zukunft müssen wir uns Sorgen machen.“