Libyen besteht aus rund 140 Clans und Großfamilien. Nur 30 von ihnen sind politisch einflussreich. Doch sie haben in dem Land die wirkliche Macht. Denn jeder Libyer fühlt sich seinem Clan und erst in zweiter Linie der Nation und einem Herrscher verpflichtet.

Muammar al-Gaddafis Macht war erkauft. Er und sein Clan waren nie das Rückgrat der libyschen Gesellschaft. Das libysche Feudalsystem funktioniert auf der Grundlage von Stammesstrukturen. Die Stämme haben wirkliche Macht, weil sich jeder Libyer zuerst seinem Clan und erst in zweiter Linie der Nation und einem Herrscher verpflichtet fühlt.

Wohl nur so ist es zu erklären, dass Gaddafis von Nepotismus, Korruption und sklavischer Loyalität geprägtes System in sich zusammengefallen ist. Denn Libyen ist nicht Ägypten oder Tunesien. Das nordafrikanische Land wird von einer vormodernen Gesellschaft bestimmt, in der es der 69-Jährige in den vergangenen 42 Jahren äußerst geschickt verstanden hat, ein tragendes, sorgfältig austariertes System zu schaffen. Es erlaubte ihm, sich an der Macht zu halten.

Die etwa sechseinhalb Millionen Libyer verteilen sich auf rund 140 Stämme und Großfamilien, von denen etwa 30 politisch einflussreich sind. Der Diktator selbst kommt aus dem Stamm der al-Gaddafa, der relativ unbedeutend war. Das änderte sich, als sich Gaddafi 1969 an die Macht putschte. Damals verhalf der junge Offizier seinen Stammesmitgliedern zu einflussreichen Posten, wodurch der Clan eine politisch zentrale Rolle erlangte. Er vergab auch Schlüsselpositionen an Mitglieder mächtiger Stämme, um sich deren Unterstützung zu sichern. Letzte Zweifel räumte er aus, indem er Erdöleinnahmen darauf verwendete, den Stammesführern Geldgeschenke zu machen, damit diese hier einen Brunnen und dort eine Schule für ihre Untertanen bauen konnten.

Gaddafi spielte aber auch auf der Klaviatur der Gewalt: Von Gefängnisstrafen bis zur Hinrichtung reichte das Spektrum seiner willfährigen Justiz. Dieses Vorgehen hatte für Gaddafi auch noch den praktischen Nebeneffekt, jegliche eventuell aufkommenden Ausgestaltungen einer Zivilgesellschaft oder intellektuellen Szene über die Jahrzehnte seiner Herrschaft zerstören zu können.

Der Anfang vom Ende Gaddafis war im Februar der Abfall des Warfalla-Stamms, des größten und einflussreichsten im Westen des Landes. Er zählt rund eine Million Mitglieder. Der Führer der Warfalla sagte damals: „Wir sagen dem Bruder Gaddafi, dass er nicht mehr unser Bruder ist.“ So einfach und so schnell geht das in einem Land, in dem Allianzen einzig dem Wohle eigener Stammesinteressen gehorchen. Der Großstamm von Akram al-Warfalli lebt südlich von Tripolis. Geliebt hat er den bizarren Despoten Gaddafi nie, spätestens seit Oktober 1993 offen gehasst: Damals hatten Armeeoffiziere vor allem des Warfalla-Stamms, aber auch aus den Magariha- und Al-Zintan-Stämmen, versucht, Gaddafi zu töten. Das Attentat misslang, und die Rache des Herrschers war grausam: Die Anführer des Coups wurden 1997 hingerichtet.

Im Osten Libyens spielt der Misurata-Clan eine wichtige Rolle, der Gaddafi zu Anfang der libyschen Revolution von der Fahne ging. Das hat damit zu tun, dass die Stämme im Osten, obwohl mit dem Zugriff auf die wichtigsten Pipelines und Ölverladehäfen, seit jeher von den Fleischtöpfen der Macht ferngehalten wurden. Eine andere wichtige Stütze Gaddafis war der Magariha-Stamm mit Hauptsiedlungsgebiet im westlichen Landesinneren. Den starken Mann dieses Clans, Oberst Abdullah al-Sanussi, band Gaddafi ein, indem er ihn zum Sicherheitschef machte und mit einer Frau seines eigenen Stamms verheiratete. Al-Sanussi soll für den Anschlag auf ein Flugzeug über dem schottischen Lockerbie 1988 verantwortlich sein. Auch auf den Al-Suwaya-Stamm im ölreichen Norden hat Gaddafi keinen Einfluss mehr – der „Bruder Führer“ hat abgewirtschaftet. Manche Stämme haben das früh, andere spät, sein eigener gar nicht erkannt. Die Scheichs wollen auf der richtigen Seite stehen, wenn Macht und Reichtümer des Landes neu verteilt werden. Die Herausforderung wird sein, diese Ansprüche mit den berechtigten Forderungen der Rebellen nach einer modernen politischen Infrastruktur zu vereinbaren.