Nordholz. Unsere Reporter waren an Bord einer Bundeswehr-Maschine, als sich ein russischer Kampfjet bis auf 50 Meter näherte. Was dann passierte.
- Ein Reporter dieser Redaktion hat die Bundeswehr bei einem Einsatz über der Ostsee begleitet
- Plötzlich näherte sich ein russischer Kampfjet
- Wie das riskante Manöver weiterging
Auf einmal taucht der russische Kampfjet auf, eine Suchoi SU-27. Er fliegt unter dem Bundeswehr-Flugzeug durch, steigt vorne wieder auf, bremst, setzt sich neben das deutsche Militärflugzeug. 50, vielleicht 40 Meter entfernt. So nah, dass man den russischen Piloten hinter den Scheiben des Jägers erahnen kann – das alles über der Danziger Bucht, auf knapp 6000 Fuß Höhe, Kurs Nord-West, bei einer Geschwindigkeit von mehr als 400 Stundenkilometern. Die russische Exklave Kaliningrad ist nicht weit.
Lesen Sie auch: Waffen und Munition – Was die Bundeswehr jetzt wirklich braucht
Am Himmel über der Ostsee sind die russischen Streitkräfte und der deutsche Aufklärungsflieger in diesem Moment nur weniger Meter auseinander. In einer Zeit des Krieges in der Ukraine und der Spannungen zwischen Nato und Russland ist das ein brisanter Augenblick, unmittelbar an der Ostflanke des westlichen Militärbündnisses.
Durch das Bullauge der Bundeswehr-Maschine sieht die deutsche Crew die Tragflächen des russischen Jets, beladen mit sechs schweren Raketen vom Typ Vympel. „Dirty wings“, sagen Soldaten. Schmutzige Flügel.
Bundeswehr-Kampfflieger auf Aufklärungsmission über Ostsee
Ein paar Stunden zuvor stehen die beiden Piloten, Kapitänleutnant Jörn und Kapitänleutnant Johannes, gemeinsam mit zwei anderen Crew-Mitgliedern vor einer Landkarte mit Pfeilen und Linien. Ihre vollen Namen sollen wie bei den anderen Soldaten nicht genannt werden.
Hier in der Wetterstation des Marinestützpunkts Nordholz bei Cuxhaven hören die Piloten an diesem Mittwochmorgen von den Meteorologen der Truppe ziemlich oft das Wort „Turbulenzen“. Und: „Probleme“. Seenebel. Und dann, später am Nachmittag, zieht eine Unwetterfront über das Gebiet. „Stramme Windscherung“. Pilot Jörn zieht die Augenbrauen höher, schaut sich ruhig die Pfeile auf der Karte an. Sie überlegen, ob sie später über einen Umweg über Helgoland von Westen aus landen.

Der Kapitänleutnant ist Soldat bei den Seefernaufklärern des Marinefliegergeschwaders 3 „Graf Zeppelin“. Sieben Uhr war Dienstbeginn, dann Verpflegung laden, Brötchen, Laugenbrezel, Kekse, Wasser, Saft und Gnocchi mit Gemüsesauce. Laptops, Tablets, Fallschirme, Schwimmwesten, Rettungsinseln. Alles kommt ins Innere der P-3C Orion, ihr Flugzeug, 35 Meter lang, 30 Meter Spannweite, vier Propeller-Triebwerke. An Bord auch: Radarsysteme, Überwachungskameras mit Infrarot-Sensor, Magnetanomalie-Detektor, Sonar-Bojen, die die Crew durch Rohre aus dem Innenraum ins Meer feuern kann. Und: Täuschkörper-Munition, zur Abwehr feindlicher Lenkraketen.
Die P-3C ist das größte Kampfflugzeug der Bundeswehr, ausgerüstet für Aufklärungsmissionen wie diese. Jetzt steht es am Boden, vor der Startbahn in Nordholz. Langsam zieht der Himmel zu.
Die Nato als Lebensversicherung für baltische Staaten
Noch am Vormittag will die Crew über der Ostsee sein, ihrem Einsatzgebiet an diesem Tag. Kurz vor dem Start stehen sie im Kreis, Team-Besprechung im Innenraum der „Orion“, auf dem Boden eine Seekarte der Ostsee. Pierre ist Tactical Coordinator, kurz „Tacco“, und leitet den Einsatz.

Tacco Pierre spricht laut, erklärt noch einmal die Flugroute, den „Punkt Lamar“, an dem die Truppe „on station“ geht. An dem sie abtaucht vom Radar, tief fliegt, ihre Mission beginnt. Der Tacco ist seit vielen Jahren Soldat, war schon auf etlichen Aufklärungsflügen über der Ostsee im Einsatz. In seinem „Briefing“ fallen viele Abkürzungen. EPD31 oder OLD, auch viel Englisch wie „Special Area“ und „Exit point“. Es ist ihre Fachsprache an Bord der P-3C.
Ihr Auftrag: Für die Nato soll die Bundeswehr Präsenz zeigen im Ostseeraum, auch als Unterstützung für die baltischen Staaten. Im Kriegsfall müssen die Länder vor allem über den Seeweg versorgt werden. Die Bundeswehr im Ostseeraum – sie ist aus Sicht von Ländern wie Estland und Litauen eine Lebensversicherung über dem Meer.
Lesen Sie auch: Warum die Beschaffung bei der Bundeswehr so zäh funktioniert
Die deutsche Crew soll bei ihren Flügen aber auch Handelsschiffe identifizieren, Kriegsschiffe aufklären, Lagebilder erstellen. „Gucken, was die Russen machen“, wie Tacco Pierre an diesem Morgen sagt. Roger. Check. Dann: Klarmachen zum Take Off.

Ukraine-Krieg: Lage in der Ostsee verschärft
Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Welt verändert. Sie hat aber auch die Lage in der Ostsee verschärft. „Die Ostsee ist Teil eines neuen Konflikts“, sagt Sebastian Bruns, Experte am Institut für Sicherheitspolitik Universität Kiel. Eigentlich schon seit 2014, als Russland die Krim annektierte.
Beide Seiten – die Nato und Russland – rüsten seitdem in der Region auf. Die Marine hat ihre Einsätze erhöht, im Sommer findet wie jedes Jahr ein großes Nato-Manöver statt, die „Baltops“. Und auch russische Verbände trainieren auf dem Meer, die Exklave Kaliningrad habe der Kreml „hochgerüstet mit Flotten und Kampffliegern zu einer Festung“, so Experte Bruns.
Kommentar: Bundeswehr: Fehler dürfen nicht noch einmal passieren
U-Boote jagen mit bis zu acht Torpedos an Bord
An diesem Mittwoch steigt die Crew der „Orion“ auch ab. Sinkflug, bis auf 60 Meter über der Meeresoberfläche, sie rauscht vorbei an einem Frachter, legt sich in die Kurve, gibt Schub, fliegt wieder nah über dem Wasser. Die Soldaten üben diese Tiefflüge regelmäßig, denn die P-3C ist nicht nur ein Aufklärungsflieger – sondern kann auch feindliche U-Boote jagen. Bis zu acht Torpedos passen in die Maschine. An diesem Tag allerdings ist sie unbewaffnet.

Die P-3C ist an diesem Mittwoch unterwegs in Richtung dieser „Festung“. Kurs: Ost. Die Ostsee liegt unter dicken Wolken. Im Innenraum sitzen die Piloten und der Bordmechaniker im Cockpit. Hinten blickt ein Hauptbootsmann mit kurzen Haaren und Bart auf einen Bildschirm, er ist „Überwasser-Operator“.
Helle Flecken blitzen auf den Monitoren auf, Signale des Radars. Mit dem Finger steuert der „Operator“ die Objekte auf dem Bildschirm an, markiert sie grün oder rot, dazu Nummern. R117 oder G32. Die Farben sind Codes. Blau für Truppen der Nato. Grün für Handelsschiffe. Rot für „Kontakt von Interesse“, das können russische Streitkräfte sein oder Gefahren wie Bohrinseln. Gelb: unbekannt.
Russischer Jet kollidierte mit US-Drohne
Tacco Pierre gibt den Befehl, ein gelbes Objekt aufzuklären. Sie halten Kurs auf den Punkt am Radar, bringen die Infrarot-Kamera in Position. Auch eine Fotokamera mit einem Teleobjektiv ist an Bord. Aufklärung im 21. Jahrhundert ist nicht nur Computer-Sensorik und Hightech-Bojen – es ist auch sehr viel schauen, vor Ort sein. Dafür ist die Crew da. Auch hier, in der Danziger Bucht, auf internationalem Gewässer, aber doch in der Nähe des russischen Territoriums.
Lesen Sie auch: Wie Russland U-Boote mit Hyperschallraketen ausstatten will
Dass der russische Kampfjet an diesem Tag zu ihnen aufsteigt, wissen die Piloten der P-3C schon kurz vorher. Über Funk melden Nato-Aufklärer aus Polen die Bewegungen zweier russischer Flieger über Kaliningrad. Wenige Minuten später taucht er am Himmel auf.
Die Crew um Pilot Jörn und Johannes hält Kurs. Jedes Manöver ist gefährlich, wenn zwei Kampfflugzeuge so nah beieinander fliegen. Vor einigen Wochen kollidierte ein russischer Jet mit einer unbemannten US-Drohne über dem Schwarzen Meer. Für den Piloten lebensgefährlich, für die Politik eine Aktion mit diplomatischem Sprengstoff.

Vier Minuten etwa begleitet der russische Jet die deutsche P-3C an diesem Tag über der Ostsee. Die Crew fotografiert, notiert die Waffentypen, die Nummer des Fliegers, dokumentiert das Manöver. Auf Fotos ist der russische Pilot zu sehen, wie er zum deutschen Kampfflugzeug rüberschaut.
Dann dreht er ab, fliegt weg. Aus dem Rumpf der SU-27 zieht sich eine Rauchschwade. Ein Motorschaden? Treibstoff? Die Meldung von Bord der deutschen P-3C geht an das Marine-Kommando und die Nato-Aufklärer. Später wird bis in die Führung der Marine diskutiert, ob dort absichtlich Treibstoff durch den Piloten abgelassen wurde. Als eine Art Warnung an die Bundeswehr-Crew. Es wäre eine Eskalation im Luftraum.
Früher hätten sich die deutschen und russischen Piloten auch mal zugewunken
Nach Analyse der Videoaufnahmen und Fotos ist das Urteil der Bundeswehr-Aufklärer klar: Treibstoff ließ der russische Pilot nicht absichtlich ab. Keine Eskalation. Unklar, ob der Motor einen Schaden hatte. Ein kleines Detail, eine Randnotiz, eigentlich. Doch der Vorfall zeigt, wie groß die Anspannung auch unter westlichen Militärs derzeit ist.

Im Innenraum der Bundeswehr-Maschine geht die Routine weiter. Es ist nicht das erste Mal, dass russische Kampfjets das deutsche Aufklärungsflugzeug abfangen. „Die waren auch schon mal näher dran“, sagt einer der Soldaten. Und früher, noch vor Jahren, seien diese Manöver auch schon passiert. Da habe man sich manchmal in der Luft sogar noch kurz zugewunken. Die Zeiten, sagt ein anderer, seien aber vorbei.
- Waffenhilfe: Ukraine-Botschafter: „Die Deutschen können stolz sein“
- Front: Neue Plage sucht ukrainische Soldaten in Schützengräben heim
- Rekrutierung: Putin entlässt russischen Satanisten aus dem Gefängnis
- Aufklärung: Putins hochfliegende Pläne: Angriffe aus der Stratosphäre?
- Scharfschütze: „Sniper“ erschießt Russen aus 3,8 Kilometer Entfernung