Berlin. Noch immer fehlt die Tatwaffe. Das Messer, mit dem zwei Mädchen die 12 Jahre alte Luise töteten. Zum Motiv der Gewalttat, zum Hergang des Verbrechens dauern die Ermittlungen im nordrhein-westfälischen Freudenberg an. Öffentlich bekannt ist kaum etwas. Am Mittwoch fand in der Gemeinde eine Trauerfeier statt, auf Wunsch der Familie wird sie kurz ausfallen. Ein Großaufgebot der Polizei soll dafür sorgen, dass Familie, Freunde und Bekannte ungestört Abschied nehmen können.
Was von dem Fall bleibt, ist vor allem die Fassungslosigkeit: Kinder töten ein Kind, offenbar mit mehreren Dutzend Stichen. Die mutmaßlichen Täterinnen sind 12 und 13 Jahre alt, mindestens eine ist mit dem Opfer eng bekannt gewesen. Vor der Tat hatten sie sich noch getroffen.
Die Gewalt von Freudenberg wirft viele Fragen auf. Vor allem aber eine: Warum töten Kinder, gelten sie doch in unserem Bild eben gerade als schutzbedürftig, als unschuldig, nicht nur strafrechtlich, sondern zu großen Teilen auch moralisch. Doch mit dem Fall in Freudenberg bekommt das Bild des unschuldigen Kindes Risse, hier wurden Kinder zu Tätern.
Eine solche Tat ist extrem selten. Ermittler, Jahrzehnte im Job, berichten, dass sie dies nie erlebt hätten, wohl nie nochmals erleben werden. In gut zehn Fällen pro Jahr sind Kinder in einem Tötungsdelikt beschuldigt, die Zahl ist konstant. Wie alt die Opfer sind, wird polizeilich nicht erfasst. Die Fallzahlen sind so gering, dass sie kaum allgemeine Schüsse oder Trends erkennen lassen – außer, dass die Täter in neun von zehn Fällen Jungen sind. Auch das macht den Fall in Freudenberg mit zwei Täterinnen so besonders.
- Lesen Sie auch: Wenn Gewalttäter nicht mehr Täter sein wollen
Es sind eher psychologische und soziale Faktoren, die eine schwere Gewalttat eines Kindes befördern können. Oft kommt vieles zusammen, was bereits mit Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft beginnen kann. Der Jugendpsychiater Helmut Remschmidt forscht seit Jahren zu Gewalt von Kindern und macht etwa auch eine niedrige Herz-Ruhefrequenz und niedrigen Hautwiderstand als biologische Faktoren aus, die „mit einer geringeren Ängstlichkeit assoziiert“ sind, schreibt Remschmidt in seinem Buch „Wenn junge Menschen töten“.
Fachleuten wie Remschmidt fällt immer wieder eine psychische Erkrankung bei stark aggressiven Jugendlichen und Kindern auf, das Fehlen von Gefühlen wie Empathie oder Reue, aber auch andere Persönlichkeitsstörungen, etwa eine sehr schwache Kontrolle von Impulsen – entscheidend: fehlende Selbstkontrolle, die sich sonst vor allem in den ersten Lebensjahren ausprägt. Kommt Drogenmissbrauch bei Kindern hinzu, kann das zusätzlich enthemmen.
Missbrauch in jungen Jahren macht Menschen oft selbst später zu Tätern
Oftmals aber hängen eben diese Faktoren vor allem mit den sozialen Umständen eines Kindes zusammen. „In der Gewaltforschung sehen wir den Trend, dass junge Täter bereits in frühen Jahren in der eigenen Familie Gewalt und Ablehnung erleben. Das prägt einen jungen Menschen. Gewalt ist nicht selten erlernt, aus dem Umfeld“, sagt Kriminologe Baier. Andere Fachleute bestätigen Missbrauch in der Familie als entscheidend für spätere Gewalt-Karrieren von Kindern und Jugendlichen.
Ohnehin spielt die Familie eine Schlüsselrolle, auch um eine Moral der Gewaltfreiheit bei Kindern zu erziehen. Die Sensibilität für Erziehung ohne Schläge oder Züchtigungen ist seit vielen Jahren gewachsen. Kinder werden nicht mit einem moralischen Kompass („Du sollst nicht töten“) geboren. Wichtig sind jedoch auch Bindungen in der Schule, ein Erfolg bei Leistungen im Klassenzimmer oder Sportverein – das alles machen Fachleute wie Baier als Schutzfaktoren gegen Gewalt aus. „Kinder brauchen Vorbilder, die selbst eben gerade nicht vorleben, dass Gewalt ein Weg der Konfliktlösung ist.“
Denn Kriminalität kommt vor, auch und sogar vor allem unter jungen Menschen. Jugendliche und Heranwachsende sind für einen großen Teil der Gewalttaten verantwortlich, nicht nur in Deutschland ist das so. Sie fallen in der Polizeistatistik auf. Gewalt spielt in der Jugend eher eine Rolle als mit Mitte 20, wenn Menschen im Berufsleben ankommen, Familien gründen. Menschen wachsen aus der Straffälligkeit heraus.
„Die Jugend wird friedlicher“, sagt der Kriminologie Dirk Baier
Was nach Taten wie Freudenberg schwerfällt, ist der Blick auf einen gegenläufigen Trend: Gewalttaten in Deutschland nehmen ab, seit 2007 sehr deutlich, nicht nur unter Jugendlichen. Deutschland ist sicherer geworden. Und Studien belegen seit Jahren, dass sich Menschen mehr Sorgen vor hohen Mietpreisen, Arbeitslosigkeit oder machen als davor, Opfer einer Gewalttat zu werden.
Seit 2015 ist die Entwicklung weniger deutlich, Zahlen steigen leicht, fallen wieder. „Zwar zeigt sich seit 2015 und 2016 ein noch unklarer Trend, doch lässt sich insgesamt sagen: Die Jugend wird friedlicher“, sagt der Kriminologie Dirk Baier im Gespräch mit unserer Redaktion.
Lesen Sie auch: Gewalt gegen Frauen – warum wir besser hinschauen müssen
NRW-Innenminister Herbert Reul ist beunruhigter, beschrieb für sein Bundesland, dass junge Täter unter 14 Jahre zuletzt häufiger der Polizei auffallen. Allerdings nicht nur mit Körperverletzungen oder gar Tötungen, sondern auch mit Delikten wie Diebstahl und Sachbeschädigung. Ein Indiz für steigende Affinität der Jugend zu Gewalt ist auch: Die den Versicherungen gemeldeten Schulhof-Raufereien nahmen in den vergangenen Jahren leicht zu – allerdings nach einem deutlichen Rückgang seit 2000.
Politiker und Polizisten sprechen oft von einer „Verrohung“ der Jugend. Zwar gibt es Berichte der Strafverfolgungsbehörden, die von steigender Aggressivität auf der Straße berichten, etwa in Einsätzen. Zugleich aber lassen mehrere Studien eine Brutalisierung der Jugend nicht erkennen. So hat etwa der Anteil der gebrauchten Schusswaffen unter jungen Menschen seit Beginn der Neunziger stark abgenommen. Zugenommen hat dagegen die Tatwaffe Messer.
Geplante Taten von jungen Menschen sind in der Mehrheit nicht besonders brutal. Heftige Folgen wie schwere Verletzungen oder gar ein Tod resultieren meist aus spontanen Gewaltaktionen, wie die Soziologin Bernadette Schaffer in ihrer gerade erschienenen Dissertation zur Brutalisierung von Jugendgewalt beschreibt. Vor allem sind es einzelne junge Menschen, die Polizei und Justiz immer wieder mit schweren Körperverletzungen auffallen.
Bei vielen fängt es mit Prügeleien an – das steigert sich, Waffen kommen dazu. Wer in Haft landet, erlebt möglicherweise auch dort Gewalt. Es beginnt das, was Forschende oft als „kriminelle Karrieren“ beschreiben. Psychologe Remschmidt sieht diese Laufbahn bei fünf Prozent der jungen Gewalttäter. Das bedeutet auch: Bei allen anderen helfen Maßnahmen, um Auswege aus der Kriminalität zu finden.
Corona-Pandemie hat psychische Erkrankungen bei Kindern anwachsen lassen
Was nachweislich durch Medienanalysen zugenommen hat: die Berichte in Zeitungen, Fernsehen und im Netz über Gewalttaten, vor allem auch in seriösen Medien. Nicht nur im Boulevard. Zugleich werden Bilder und Fotos von Gewalt schneller medial geteilt, etwa in den sozialen Netzwerken. So verbreitete sich auch im Fall Freudenberg ein Video (nicht von der Tat) samt Foto der Täterin rasant im Netz. Diese mediale Dynamik führt zu einer stärkeren Wahrnehmung von Gewaltverbrechen, sind sich Forscher einig.
Fachleuten machen aber gleich mehrere Trends Sorge. Nachweislich haben die Corona-Pandemie und damit verbundene Lockdowns in Schulen, Vereinen und Familien psychische Erkrankungen bei Kindern anwachsen lassen. Noch gibt es keine Studien darüber, ob dieser Anstieg auch zu mehr Gewalt führt – oder besser: in welchen sozialen Gruppen.
Lesen Sie auch: Femizid – warum Männer Frauen töten, weil sie Frauen sind
Was leicht wächst, sind jedoch stereotype Bilder von Männlichkeit und entsprechender Rollendominanz unter jungen Menschen. Diese Männlichkeitsideale können Gewalt legitimieren. Vor allem unter Jugendlichen mit Migrationsgeschichte etwa aus der Türkei sind diese Bilder vom „Mann sein“ eher verankert – und können mit entsprechenden Gewalterfahrungen in der Familie verbunden sein.
Diese „Männlichkeit“ leben junge Menschen immer wieder auch in Cliquen aus. Auch das legen aktuelle Studien nahe. „Wir sehen, dass Kinder in Cliquen durchaus schnell lernen, und dann das Falsche: ‚kriminelle Kompetenzen‘, etwa, wie sie Menschen ausrauben. Sie lernen, Gewalt anzuwenden“, sagt Forscher Baier. Und Psychiater Remschmidt schreibt in einer Studie von 2012: „Bei den Straftaten, die in Gruppen ausgeführt wurden, wurden signifikant mehr Personen getötet als von Einzeltätern.“ Auch der Konsum von Alkohol und Drogen nimmt in Gruppen zu – und birgt Risiken der verschärften Gewalt.
Dirk Peglow, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, sieht eine weitere Gefahr: die Nutzung von sozialen Medien und Messenger-Diensten durch Kinder und Jugendliche. Über WhatApp oder Instagram verbreiten junge Menschen immer wieder auch Bilder und Videos, die Gewalt inszenieren oder verherrlichen. Oft ist das auch scherzhaft gemeint, oft soll es „krass“ sein.
Erkennen und intervenieren – mehr Hilfe für Familien anstatt höhere Strafe für Kinder
Peglow warnt: „Durch das Teilen von gewaltverherrlichenden Inhalten in den sozialen Netzwerken und über Messenger-Dienste finden in jungen Jahren eine Gewöhnung an Gewalt statt, die gefährliche Auswirkungen auf einzelne Menschen haben kann.“ Hier müssten Eltern und Schulen besser sensibilisiert werden.
Ähnlich sieht es Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er, dass auch Anbieter von sozialen Plattformen und Diensten technische Schranken entwickeln müssen, um „Kindern den Zugang zu gewalttätigen Inhalten zu begrenzen“. Maier sagt, „wir sehen eine Verrohung der Kommunikation“.
Die große Mehrheit der Fachleute setzt auf Hilfe für Kinder und Familien. Nur wenige befürworten härtere Strafen oder eine Herabsenkung der Strafmündigkeit etwa auf 12 statt bisher 14 Jahre. „Der beste Schutz vor solchen brutalen Taten sind nicht höhere Strafen, sondern Hilfe für die Kinder und deren Familien, bevor Gewalt ausbricht“, sagt Kriminologe Baier.