Ukraine-Krieg

Russland: Warum Putins Truppen zu billigen Waffen greifen

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Miguel Sanches
Putin: Wir wollen die Ukraine nicht vernichten

Putin: Wir wollen die Ukraine nicht vernichten

Trotz einer Reihe von Rückschlägen für die russische Armee hält Russlands Präsident Wladimir Putin weitere "massive" Angriffe auf die Ukraine derzeit nicht für notwendig. Russland mache in der Ukraine "alles, wie es sein muss", sagte Putin nach einem Gipfeltreffen mit Vertretern ehemaliger Sowjetrepubliken in Kasachstan.

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Der britische Geheimdienst glaubt, dass den Russen die Waffen ausgehen. Wunschdenken oder ein reales Schlussszenario im Ukraine-Krieg?

Berlin. 
  • Der britische Geheimdienst glaubt, dass Russland die Waffen ausgehen
  • Russland verbraucht, verschleißt, verliert Waffen, während die Ukraine aufgerüstet wird
  • Warum das nur eine Taktik der Russen sein könnte

In der Ukraine tobt ein Abnutzungskrieg. Wer blutet zuerst aus? „Wir wissen, und das wissen auch russische Kommandeure im Krieg, dass ihnen die Ausrüstung und Munition ausgeht“, lautet die Antwort von Jeremy Fleming, Direktor des britischen Geheimdienstes GCHQ.

Das klingt so, als könnte er ausrechnen, wann Kreml-Chef Wladimir Putin blank ziehen, den Rückzug antreten, Verhandlungen anbieten oder die "militärische Spezialoperation" auf eine andere Ebene heben muss, auf der er mithalten kann: mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen.

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Die Kräfteverhältnisse haben sich gedreht. Russland verbraucht, verschleißt, verliert Waffen, während die Ukraine aufgerüstet wird. Gerade erst wurde die westliche Militärhilfe aufgestockt.

Ukraine-Krieg: Warum greifen Putins Truppen auf billige Waffen zurück?

Die Angriffswelle dieser Woche hat freilich gezeigt, dass die russische Armee in der Lage ist, bei minimalem Risiko jeden Punkt in der Ukraine anzugreifen. Es kamen lauter Waffen zum Einsatz, die aus größerer Entfernung gestartet wurden: Marschflugkörper und ballistische Raketen, abgefeuert von Schiffen und Flugzeugen.

Zugleich fiel auf, dass sie Anti-Schiffs-Raketen und ältere Abwehrwaffen für den Bodenkrieg umfunktionieren und auf primitive iranische Drohnen zurückgreifen mussten. Es sind keine High-Tech-Waffen, im Gegenteil: sie sind eher unpräzise, fehleranfällig. Gut die Hälfte wurde von den Ukrainern abgefangen.

Für die Briten sah es wohl nach Improvisation und Verzweiflung aus. Es gibt indes eine andere Lesart, eine "andere Logik der Knappheit", wie es Burkhard Meißner vom German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) ausdrückt, ein Kooperationsprojekt der Führungsakademie der Bundeswehr und der Universität der Bundeswehr in Hamburg..

Ukraine-Krieg: Schon rund 3800 Raketen und Marschflugkörper eingesetzt

Im Ukraine-Krieg kommt kaufmännisches Kalkül zum Zuge. Die Russen feuern billige, ältere Abwehrraketen des Typ S300 ab, von denen sie genug haben und die ohnehin für den modernen Luftkampf nur noch begrenzt einsetzbar wären.

Auf Angriffe mit relativ günstigen Mitteln muss die Ukraine mit zum Teil teurer Abwehr aus dem Westen reagieren. Ein einziges IRIS-T-System aus Deutschland kostet 140 Millionen Euro. "Dies kann ein Kalkül Russlands sein, um den Verteidiger ökonomisch auszuhöhlen", sagte Meißner unserer Redaktion. "Die Russen setzen auch günstig gekaufte iranische Drohnen des Typs Shahed-136 ein, die die Ukraine ebenfalls mit relativ teuren westlichen Systemen abwehrt."

Es ist kaum ein Zufall, dass die Nato in dieser Woche ankündigte, Hunderte so genannte Jammer zu liefern: Elektromagnetische Störsender, die ein Signal aussenden, das die Funkverbindung zwischen Drohne und Steuerungsgerät stört oder blockiert. Eine billigere Methode als Raketen.

Aus vergleichbaren Motiven forcierte Israel die Entwicklung von Laserwaffen, nachdem die Palästinenser mit billigen Raketen es dazu gebracht hatten, einen aufwendigen Schutzschirm aufzuspannen: den "Iron Dome". Nach erfolgreichem Test twitterte Ministerpräsident Naftali Bennett, "es mag wie Science-Fiction klingen, aber es ist real". Es sei das weltweit erste energiebasierte Waffensystem, das einen Laser verwende, um Drohnen, Raketen und Mörser abzuschießen. Und: Jeder Schuss koste nur 3.50 US-Dollar.

Zum Vergleich: Ein Lenkkörper des Typs Ch-101, den die Russen am Montag auch abgefeuert haben, schlägt laut "Forbes" mit 13 Millionen Dollar zu Buche, pro Stück wohlgemerkt. "Man schätzt, dass die russische Rüstungsindustrie jährlich rund 100 bis 120 präzisionsgelenkte Raketen herstellen kann", erläutert Meißner. Auf dieser Basis gehen westliche Experten davon aus, dass die Russen seit Beginn des Krieges vor fast sieben Monaten bereits die Jahresproduktion von acht bis zehn Jahren verbraucht haben.

Ein anderes Beispiel sind die Iskander-Raketen, die so schnell wie schwer abzufangen sind. Es wird geschätzt, dass die Produktionskapazität niedrig ist und die Bestände schon zu 80 Prozent ausgeschöpft sind. Hinzu kommt, dass Komponenten, etwa Mikrochips, womöglich aus dem Ausland bezogen werden und aufgrund der westlichen Sanktionen schwerer denn je zu beschaffen sind.

Die Horrorvorstellung: Chinesische Lieferungen wären ein "Gamechanger"

Putins Truppen haben in den ersten Kriegsmonaten aus dem Vollen geschöpft, pro Tag bis zu 6.000 Artilleriegranaten abgefeuert, was eine riesige Logistik voraussetzt, die von den Ukrainern immer wieder gestört und zerstört wurde: Versorgungswege, Depots. Ganz zu schweigen von der Munition, die sie auf der Flucht liegen ließen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

In Kiew hat man über jeden russischen Schuss Buch geführt und kommt seit Kriegsbeginn auf 3800 Raketen und Marschflugkörper. Das heißt nicht, dass den Russen die Munition ausgehen muss. Es heißt nur, dass sie nicht wie bisher weitermachen können. Sie müssen ihre Waffen klüger einsetzen, sparsamer. Es ist billiger, iranische Drohnen zu kaufen, als die Produktion daheim hochzufahren; ganz abgesehen davon, dass die Russen bei der Drohnen-Entwicklung – auch da waren die Ukrainer weitsichtiger – hinterhinken.

Die "wirklich knappe Ressource" scheint Meißner "in erster Linie das Personal zu sein". Niemand im Westen kann errechnen, ob und wann den Russen das Material ausgeht. Aber alle können sich ein Horrorszenario ausmalen: Wenn die Chinesen als Lieferanten einspringen würden. Das könnte Sie auch interessieren: Ukraine-Krieg: Wie Milliardär Elon Musk sich an Melnyk rächt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.