Kiew/Berlin. Den Besuch von Kanzler Olaf Scholz haben viele Ukrainer nur mit geballter Faust in der Tasche ertragen. Denken die Menschen zwischen Lwiw und Charkiw an Deutschland, sind die meisten von ihnen zwar ehrlich dankbar für die langjährige finanzielle Hilfe. Viele denken aber in der zugespitzten Lage, in der russische Truppen das Land eingekreist haben, auch an Verrat. Und dabei geht es keineswegs nur um die Berliner Weigerung, Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern.
In der Ukraine kennen sie die Geschichte gut. Sie akzeptieren historisch begründete Vorbehalte in Deutschland. Auch wenn Frust und Zorn mitunter groß sind, dass die Opfer des NS-Vernichtungskriegs meist nur auf dem russischem Konto verbucht werden, obwohl die Wehrmacht in der Ukraine und in Belarus noch schlimmer wütete. Und natürlich würden sich die Ukrainer den russischen Truppen im Ernstfall lieber mit deutschen Gewehren in Händen entgegenstellen als ohne.
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Allerdings ist den meisten Menschen im Land und nicht zuletzt der Regierung in Kiew klar, dass die jüngste Forderung nach 12.000 Panzerabwehrraketen unrealistisch ist – und auch unsinnig. Eine Zusage würde den Konflikt nur weiter anheizen und Scholz bei seinem Besuch in Moskau noch den letzten Verhandlungsspielraum rauben. Es ist nicht mal auszuschließen, dass der Kreml deutsche Waffenlieferungen zum Anlass für eine Invasion nehmen würde.
Deutschland hat in der Ukraine viel Glaubwürdigkeit verspielt
Die ukrainische Raketenforderung ist deshalb anders zu verstehen: als Ausdruck einer fundamentalen Enttäuschung über die deutsche Haltung. Auf der einen Seite ist da der Anspruch einer wertegebundenen Außenpolitik. Multilateralismus, Völker- und Menschenrechte werden in Berlin ja nicht erst seit dem Einzug einer Grünen-Politikerin ins Auswärtige Amt wie eine Monstranz zur Schau gestellt. Dazu gehören auch die Beschwörungen des Selbstbestimmungsrechts und der territorialen Integrität der Ukraine.
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Auf der anderen Seite haben aber die wechselnden Regierungen unter Gerhard Schröder, Angela Merkel und nun Olaf Scholz stets auf eine von Energiehunger getriebene Partnerschaft mit dem rohstoffreichen Russland gesetzt.
Das deutsche Schlagwort vom „Wandel durch Handel“ verstehen viele Ukrainer anders: „Zuerst kommt der Profit, dann die Moral.“ Die zentralen Stichworte lauten Nord Stream II, Ablehnung eines ukrainischen Nato-Beitritts und Vermeidung einer echten EU-Perspektive. Bei gleichzeitiger Kumpanei mit dem Kreml. Angesichts dieser Vorgeschichte ertragen die Ukrainer es nur schwer, wenn Scholz sich in Kiew hinstellt und von Solidarität redet. Schöne Worte haben sie einfach schon zu oft gehört.
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Ukrainer kämpfen für die Demokratie – und haben unsere Hilfe verdient
Das Schlimmste ist aber die Selbstverliebtheit, mit der viele Deutsche der Ukraine vorrechnen, wie viele Milliarden Euro man in den vergangenen 20 Jahren in das Land überwiesen habe. Als Hilfe zur Selbsthilfe. Quasi geschenkt. Ein wenig Dankbarkeit, klingt da immer mit, dürften die Bittsteller doch auch mal zeigen. Zumal sie ja so korrupt seien.
In Wirklichkeit kämpfen die Menschen in der Ukraine seit drei Jahrzehnten nicht nur für Unabhängigkeit, für Demokratie, Freiheit und eine europäische Perspektive. Sie ringen auch mit einer Mafiakaste, die sie nicht gewollt haben. Unter der Korruption leiden die „normalen Menschen“ am meisten.
Das Problem: Die berüchtigten Oligarchen haben nach dem Ende der Sowjetunion so viel Macht und Geld zusammenrauben können, dass sie nur schwer wieder zu entmachten sind. Jedenfalls nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln, auf die sie in der Ukraine sehr viel stärker vertrauen als in Russland. Genau das ist aller Unterstützung wert. Nicht zuletzt im Eigeninteresse Deutschlands und des Westens.
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