Brexit-Abstimmung

May zieht die Reißleine – kommt jetzt der Chaos-Brexit?

| Lesedauer: 5 Minuten
Christian Kerl
Ein Gegner des Brexits demonstriert vor dem Parlament in London.

Ein Gegner des Brexits demonstriert vor dem Parlament in London.

Foto: HENRY NICHOLLS / REUTERS

Aus Angst vor dem Untergang hat Theresa May die Brexit-Abstimmung abgesagt. Kommt jetzt der harte Schnitt oder gar ein Rückzieher?

London.  Gut drei Monate vor dem britischen EU-Austritt wird der Brexit immer mehr zum Polit-Krimi. Premierministerin Theresa May hat die für Dienstag angesetzte entscheidende Abstimmung im britischen Unterhaus über den Brexit-Vertrag abgesagt – aus Furcht vor einer vernichtenden Niederlage machte sie nur 24 Stunden vorher einen Rückzieher.

May will zuerst noch am Dienstag zu Gesprächen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte zusammentreffen, wie die britische Regierung am Montagabend mitteilte.

Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel will sie zudem Nachbesserungen am Deal erreichen. Doch die EU-Kommission bleibt hart: Das Abkommen wird nicht mehr aufgeschnürt. Droht der Chaos-Brexit?

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereitet die Bürger auf ungemütliche Zeiten vor: In einem Schreiben an das EU-Parlament, das unserer Redaktion vorliegt, erklärt er: Egal, wie der Brexit vollzogen werde – „er wird erhebliche Erschütterungen für Europas Bürger, Wirtschaft und Verwaltung verursachen.“ Das muss man jetzt zum Brexit wissen.

Warum ist das Parlament für May so wichtig?

Der Austrittsvertrag kann nur in Kraft treten, wenn das britische Unterhaus ihm zugestimmt hat. Die britische Regierung und die EU-Kommission haben den 600-Seiten-Deal zwar ausgehandelt und abgesegnet, auch die EU-Regierungschefs gaben ihr Jawort. Aber alles hängt jetzt an den Abgeordneten – in London und auf Brüsseler Seite im EU-Parlament, dessen Zustimmung aber als Formsache gilt.

Nur mit dem ratifizierten Scheidungsvertrag ist ein geordneter Austritt am 29. März 2019 gewährleistet: Großbritannien akzeptiert mit dem Deal eine milliardenschwere Abschlussrechnung und erhält eine Übergangsfrist von zwei bis drei Jahren, in der sich kaum etwas ändert; in der Zeit würden offene Details ausgehandelt. Ohne diesen Vertrag droht in drei Monaten ein chaotischer EU-Austritt ohne Regelungen.

Warum hat May die Abstimmung dennoch abgeblasen?

Weil der Widerstand in ihrer eigenen Tory-Partei immer größer wurde. Mays Mehrheit im Parlament ist ohnehin dünn, an eine Zustimmung zum Vertrag schon im ersten Durchgang glaubt niemand.

In einer Erklärung räumte sie am Montag im Unterhaus ein, der Deal würde aktuell von einer erheblichen Mehrheit abgelehnt. Es gebe zwar breite Zustimmung zu Schlüssel-Aspekten des Vertrags, aber die umstrittene Lösung zur irischen Grenzfrage stoße auf breite und ernste Bedenken.

Bei den Tories lehnen sowohl viele Befürworter als auch Gegner des Brexit den Vertrag ab, ebenso die nordirische DUP, auf die sich May mit ihrer Regierung stützt. Und auch die oppositionelle Labour-Partei hat Ablehnung angekündigt.

Aber: Mays Hoffnung ist, bei einem möglichen zweiten Anlauf im Parlament – der im Januar stattfinden würde – noch genügend Abgeordnete hinter sich zu versammeln, wenn klar ist, dass die Alternative ein wilder Brexit wäre.

Eine Niederlage hätte allerdings unabsehbare Folgen: In London wird über einen Putsch gegen May spekuliert, über einen Rücktritt der Regierungschefin, Neuwahlen, ein zweites Brexit-Referendum – und sogar über einen Widerruf des Brexit.

Kann London den Brexit widerrufen?

Ja, das hat das oberste EU-Gericht am Montag entschieden. Großbritannien kann seine Austrittserklärung einseitig, also auch ohne Zustimmung der anderen EU-Staaten, zurückziehen und bliebe dann mit allen Rechten Mitglied der Union. Voraussetzung: Das Parlament stimmt zu und der Rückzieher wird vor dem Austrittstermin erklärt. Bislang ist das aber unwahrscheinlich.

Wie geht es jetzt weiter?

May will versuchen, beim EU-Gipfel mit Verweis auf ihre heikle Lage die anderen Regierungschefs zu Korrekturen am Brexit-Deal zu überreden, und dann über den Vertrag abstimmen lassen. Sie drängt auf Nachbesserungen bei der irischen Grenzfrage, um ihre Kritiker zu besänftigen.

Bislang gilt, dass Großbritannien zur Vermeidung von Grenzkontrollen im Notfall („backstop“) unbegrenzt in einer Zollunion mit der EU bliebe – das empört viele Brexiteers. Was genau May aushandeln will, ließ sie offen. Aber die EU winkt ohnehin ab.

Ratspräsident Donald Tusk erklärte am Abend, das Thema könne zwar beim Gipfel erörtert werden – obwohl es nicht auf der Tagesordnung steht. Aber es werde keinerlei Nachverhandlungen geben. Der Deal „ist der einzig mögliche“, sagt auch Kommissionspräsident Juncker. Seine Sprecherin bekräftigte am Montag: „Wir werden nicht neu verhandeln.“

Auch vom EU-Parlament kommt schon klare Ablehnung: „Es wird keine Neuverhandlungen geben“, sagt der CDU-Abgeordnete Elmar Brok, der dem Brexit-Komitee des Parlaments angehört.

Allerdings heißt es in Brüssel, bei der zusätzlichen, unverbindlichen „politischen Erklärung“ zu den künftigen Beziehungen sei ein Entgegenkommen an London möglich. Das meint auch Tusk, wenn er von „Erleichterungen“ bei der britischen Ratifizierung spricht. Aber das dürfte May aber wenig helfen.

Was, wenn der Vertrag scheitert?

Ein Brexit ohne Vertrag hätte vor allem für Großbritannien katastrophale Folgen. Es wird schon über einen Plan B diskutiert: Mays Umfeld sondiert angeblich die Möglichkeit eines zweiten Brexit-Referendums – statt des Parlaments soll das Volk entscheiden. May lehnt die Idee ab, warnte vor einer „erneuten Spaltung des Landes“, in ihrem Kabinett gibt es aber Unterstützung.