Weltkriegsgedenken

Eine Reise für den Frieden

| Lesedauer: 7 Minuten
Michael Backfisch
Frankreichs größte Zeitung „Ouest-France“ und die Funke Mediengruppe, zu der auch unsere Redaktion gehört, besuchten mit 20 deutschen und 20 französischen Schülern historische Stätten des Ersten Weltkriegs, hier die Kriegsgräber in Douaumont.

Frankreichs größte Zeitung „Ouest-France“ und die Funke Mediengruppe, zu der auch unsere Redaktion gehört, besuchten mit 20 deutschen und 20 französischen Schülern historische Stätten des Ersten Weltkriegs, hier die Kriegsgräber in Douaumont.

Foto: Reto Klar

Gemeinsam besuchen deutsche und französische Schüler die ehemalige Frontlinie. Auch Berliner Jugendliche waren mit dabei.

Compiègne/Paris.  Eben noch blicken Angela Merkel und Emmanuel Macron ernst auf die Gedenkstätte für die Opfer des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Als ein Jugendchor die Europahymne anstimmt, hellen sich ihre Mienen auf. Beide lächeln den Sängern zu. Wenige Minuten später laufen die Bundeskanzlerin und der französische Präsident zu einer Gruppe von 40 deutschen und französischen Schülern, die als Gäste der Zeremonie geladen waren. Keine zehn Meter von hier stand der Eisenbahnwaggon, in dem am 11. November 1918 der Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich unterzeichnet wurde. Compiègne ging damit in die Geschichte ein. Am Sonnabend reden die Kanzlerin, der Präsident und die Jugendlichen genau dort über Krieg und Frieden im Jahr 2018.

„Welche Botschaft können Sie uns Jugendlichen für Europa geben?“, will die 18-jährige Josepha Bakalow vom Europäischen Gymnasium Bertha von Suttner in Berlin von Macron wissen. Sie trägt ein schwarz-weißes Ringelkleid und Jeans und schaut dem Präsidenten direkt in die Augen. „Unser Europa hat seit 73 Jahren Frieden. Deutschland und Frankreich haben beschlossen, ihre Zukunft und Sicherheit zusammen zu gestalten“, antwortet der Chef des Élysée-Palasts. „Die Botschaft angesichts der im Ersten Weltkrieg Gefallenen lautet: Nie wieder so etwas. Wir müssen die Jugend beider Länder ermutigen, gemeinsame Projekte anzupacken.“ Auch Merkel schaltet sich ein. „Es liegt in eurer Hand. Dafür lernt ihr und eignet euch Fremdsprachen an“, sagt sie. In ihrem Blick liegt eine Mischung aus Aufmunterung und Mahnung.

Ein Besuch an der Frontlinie

Josepha gehört zu den Schülern aus Deutschland und Frankreich. Die Funke Mediengruppe und ihre französische Partnerzeitung „Ouest-France“ hat die Reise zu den Schlachtfeldern im ostfranzösischen Verdun und an den Ort des Waffenstillstands in Compiègne organisiert. Gemeinsam sollten die Gymnasiasten an die Frontlinie fahren, an der sich ihre Urgroßväter – oft nur wenige Jahre älter – aufs Bitterste bekämpft hatten.

Als der aus Syrien stammende Ali Jarjanazi die Kanzlerin um ein Bild mit ihm bittet, zuckt diese kurz zusammen. Das Selfie mit einem syrischen Migranten 2015 hat ihr auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise viel politischen Ärger eingebracht. „Dann machen wir mit allen Schülern zusammen ein Foto. So hat jeder etwas davon“, betont sie.

Ali ist 17, lebt seit dreieinhalb Jahren in Deutschland und geht auf die Karl-Volkmar-Stoy-Berufsschule im thüringischen Jena. Sein Schicksal zeigt, dass die Folgen der Konflikte, die Tausende Kilometer von Deutschland entfernt wüten, bis vor unsere Haustür reichen. Ende 2012 ist der syrische Bürgerkrieg auch in Alis Heimatstadt Hama aufgeflammt. An einem trüben Wintertag ging der damals Elfjährige mit Freunden auf die Straße vor seinem Haus. Die Jungen wollten nachschauen, ob sich die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Regimegegnern beruhigt hatten. Als Ali auf dem Boden eine Cola-Flasche sah, hob er sie auf. Was er nicht wusste: Die Flasche war mit Sprengstoff gefüllt. Die Explosion riss ihm beide Hände weg, zudem verlor er ein Auge. Seine Flüchtlingsodyssee führte ihn in die Türkei, später mit dem Schlauchboot nach Griechenland und über die Balkanroute nach Deutschland.

Was kann man tun, damit es keinen Krieg mehr gibt?

Ali spricht fließend Deutsch, hat einen wachen Blick und wirkt abgeklärt. Seine Frage an die Kanzlerin: „Können Sie den arabischen Präsidenten erklären, was man tun kann, damit es keinen Krieg mehr gibt?“ Merkel denkt kurz nach und sagt dann: „Man muss Menschen immer wieder auffordern, miteinander zu sprechen. Wir haben leider heute in der Welt so viel Sprachlosigkeit. Gerade aus der syrischen Perspektive muss man irgendwann den Punkt finden, auch einander zu vergeben.“

Wie lange der Weg von Krieg bis Versöhnung dauern kann, wird den Schülern bereits am Freitag auf den Schlachtfeldern von Verdun vor Augen geführt. Dort, wo früher das Dorf Fleury-devant-Douaumont stand, herrscht heute eine gespenstische Stille. Der Wind spielt mit den goldgelben Blättern an den Bäumen. Der von lauter Mulden durchzogene Boden ist mit Laub bedeckt. Die kleinen Bodensenken sind Granattrichter, die früher sechs Meter tief waren. In der Erde befinden sich noch immer die Gebeine von Tausenden deutschen und französischen Soldaten, die vor mehr als 100 Jahren im Ersten Weltkrieg in einem brutalen Artilleriegefecht gegeneinander kämpften.

Die Geschütze feuerten aus allen Rohren

60 Millionen Geschosse hagelten auf eine Fläche von 20 mal 20 Kilometern. Das Ritual der Zerstörung funktionierte immer gleich: Die Geschütze feuerten aus allen Rohren auf das Gelände, dann rückte die Infanterie nach vorn und suchte Schutz in den Granattrichtern. Schoss die andere Seite zurück, bewegten sich die Angreifer nach hinten.

„Normalerweise liegt der Erste Weltkrieg weit zurück, doch hier ist er ganz nah. Das ist sehr bewegend“, sagt Josepha Bakalow. Auch auf dem Friedhof von Douaumont, wo 16.000 weiße Steinkreuze auf den Gräbern von französischen Soldaten stehen, hat sie ein beklemmendes Gefühl. Der 15-jährige Laurenz Herbst, ebenfalls vom Berliner Bertha-von-Suttner-Gymnasium, meint: „Es ist erschreckend zu sehen, wie sich deutsche und französische Soldaten haben umnieten lassen.“ Den 15-jährigen Schüler Elias Baumgartner hat vor allem das Beinhaus mitgenommen, das die Knochen von 130.000 deutschen und französischen Soldaten enthält: „Der Anblick der Masse von Gebeinen war schockierend.“

Vom 21. Februar bis zum 19. Dezember 1916 dauerte die „Schlacht der 300 Tage und 300 Nächte“, von vielen als „Hölle von Verdun“ bezeichnet. Rund 500.000 Soldaten wurden getötet, 400.000 verwundet. Während des gesamten Ersten Weltkriegs kamen rund 15 Millionen Menschen ums Leben.

Josephas Ururgroßvater kämpfte in Nordfrankreich und wurde nach wenigen Monaten im Oktober 2014 in der Gemeinde Achiet-le-Petit getötet. Dass es heute in Europa zu einem großen Gemetzel wie in Verdun kommen könnte, glaubt sie nicht. „Die Welt ist eher friedlicher geworden.“ Und dennoch hat sie eine Idee, wie Kriege künftig verhindert werden könnten. „Kommunikation ist der Schlüssel. Dass wir uns in Verdun mit französischen Schülern austauschen dürfen, ist toll. Wenn man überall Freunde hat, gibt es keine Feinde.“

Aus Frankreich berichten neben Michael Backfisch: Johanna Rüdiger, Caroline Rosales, Jörg Quoos und Reto Klar.

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