Köln

Geiselnahme: „Die Sprengkraft wäre ungeheuerlich gewesen“

| Lesedauer: 8 Minuten
Andreas Boehme, Annika Fischer und Christian Unger
Tatort: Apotheke im Kölner Hauptbahnhof

Tatort: Apotheke im Kölner Hauptbahnhof

Foto: Marius Becker / dpa

Täter präparierte Gaskartuschen in einem Koffer. 55 Jahre alter Syrer liegt im Koma. Hatte er ein islamistisches Motiv?

Köln/Berlin.  Die Videosequenz ist kurz, keine Minute lang. Ein Mädchen, 14 Jahre alt, gibt am Tresen von McDonald’s ihre Bestellung auf. Hinten im Restaurant steht der ältere Mann, er zieht einen Rollkoffer, trägt eine Aktentasche bei sich. Plötzlich verschüttet er Benzin aus Flaschen. Andere Gäste stürmen aus der Filiale. Nur das Mädchen erkennt die Gefahr offenbar nicht. Dann wirft der Angreifer ein Streichholz. Eine Stichflamme schießt hoch. An der Stelle brechen die Bilder der Überwachungskamera in dem Schnellrestaurant ab.

Im Koffer, das zeigt die Polizei am Tag nach der Geiselnahme im Kölner Hauptbahnhof, hatte der Angreifer Gaskartuschen verstaut, umklebt mit gelbem Band, darunter viele kleine Stahlkugeln. „Die Sprengkraft wäre ungeheuerlich gewesen“, sagt der leitende Kriminaldirektor Klaus-Stephan Becker. Ob der Sprengsatz tatsächlich funktioniert hätte, untersuchen Kriminaltechniker derzeit. Doch am Tag nach der Tat scheint der Polizei klar: Der Täter, jetzt aufgrund von Fingerabdrücken eindeutig als ein 55 Jahre alter Mann aus Syrien definiert, plante einen Anschlag. Er liegt im Koma, kann nicht befragt werden.

Offenbar wollte er Menschen töten. Hinweise auf ein islamistisches Motiv haben die Ermittler bisher nicht – mit Ausnahme von Zeugenaussagen am Tatort. Der Mann habe sich selbst zur Terrororganisation „Islamischer Staat“ gezählt. Ob er im Auftrag des IS agierte und Komplizen hatte oder seine Tat politisch motiviert war, bleibt unklar. Belege gibt es bisher nicht. Und doch gehen die Ermittler nun mehreren Spuren nach – auch der Terror-Spur.

Was ist über die Tat bekannt?

Das Vorgehen des Geiselnehmers stellt die Ermittler noch vor ein Rätsel. Am Montag, um 12.30 Uhr, betritt er die McDonald’s-Filiale am Kölner Hauptbahnhof – und zündet einen selbst gebastelten Molotowcocktail. Eine junge Frau wird schwer verletzt. Im Schnellrestaurant deponiert der Täter dann den Koffer mit den Gaskartuschen. Womöglich weil die Sprinkleranlage in der Filiale startete, änderte der Mann seinen Plan und rennt in die Apotheke gegenüber. Dort nimmt der 55-Jährige eine Mitarbeiterin als Geisel, in Taschen entdecken die Ermittler später weitere Gaskartuschen und Brandbeschleuniger. In der Hand hält der Täter eine Waffe. Mittlerweile ist klar: Es war eine Softair-Waffe, keine scharfe Pistole, aber „täuschend echt“, wie die Polizei sagt. Nach zwei Stunden stürmen Spezialkräfte die Apotheke. Sie trifft den Geiselnehmer mit mehreren Schüssen, die Geisel wird leicht verletzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen zweifachen Mordversuches mit Geiselnahme.

Was weiß man über den Täter?

Der 55 Jahre alte syrische Staatsangehörige wurde nach der Tat mehrere Stunden in einem Kölner Krankenhaus operiert. Der Mann wohnte vor der Tat in einem Mietshaus in Köln, in dem viele Geflüchtete leben. Als Ermittler die Wohnung des Beschuldigten durchsuchen wollen, müssen Feuerwehrleute vorher lüften – so stark ist der Geruch des Benzins, das noch in der Wohnung lagert. An der Wand, so erzählt der leitende Kriminaldirektor, entdeckten die Polizisten Schriftzüge in arabischer Schrift und mit Bezügen zum Islam: „Allah ist groß“ und „Mohammed ist sein Prophet“. Hinweise auf eine Mitgliedschaft beim IS fanden die Ermittler nicht. Zwei Handys werden ausgewertet.

Im März 2015 war der Mann aus Syrien nach Deutschland geflohen. Er hat einen Status als Flüchtling, ist vorläufig hier anerkannt bis 2021. Unklar ist seine Geschichte in Syrien, einzelne Medien berichten über eine Zeit in einem Gefängnis unter Diktator Assad, andere berichten sogar von Folter. Die Polizei kann das bisher nicht bestätigen.

Die Ermittler befragten bereits den Sohn des Angreifers, der in Offenbach lebt. Derzeit wird die Vernehmung durch die Polizei ausgewertet. Der Bruder des Syrers soll sich ebenfalls in Deutschland aufhalten. Der beschuldigte Syrer ist weder dem Staatsschutz noch dem Geheimdienst als Islamist bekannt. Bekannt ist er allerdings der Polizei: Seit 2016 fiel er mit insgesamt 13 Delikten auf – darunter Besitz von Marihuana, Ladendiebstahl, Betrug und Hausfriedensbruch. Eine Anklage wegen Betrug wurde fallengelassen, weil die Polizei nicht ausreichend Beweise finden konnte, gab die Staatsanwaltschaft bekannt.

Die Frau des Angreifers lebt nach Erkenntnissen der Behörden noch in Syrien. Zweimal hatte das Ehepaar einen Antrag darauf gestellt, dass die Frau zu Mann und Sohn nach Deutschland kommen darf. Zweimal lehnten die deutschen Behörden den Antrag ab. Hinweise verdichten sich, dass der 55-jährige Syrer psychisch erkrankt war. Er habe aus diesem Grund auch nicht arbeiten können, sagt der leitende Kriminalbeamte. Er soll in psychologischer Behandlung gewesen sein. Details über den Grad der Krankheit nannte die Polizei jedoch nicht.

Wer sind die Opfer?

Das 14 Jahre alte Mädchen in der McDonald’s-Filiale erlitt schwere Verbrennungen. Am Dienstag wurde sie operiert. Außerdem stand das Opfer unter Schock, ebenso wie die Apothekenangestellte. Eine andere Frau aus der Filiale im Bahnhof wurde mit Verdacht auf Rauchgasvergiftung behandelt. Die Polizei geht davon aus, dass die drei Frauen zufällig zu Opfern des Täters wurden. Über die Ziele und Motive des Täters herrscht Unklarheit. Die Polizisten rätseln noch, wie der Mann zum Bahnhof reiste und ob er bei der Vorbereitung des Angriffs Komplizen hatte.

Was spricht für ein islamistisches Motiv des Täters? Was dagegen?

Passanten vor Ort berichteten der Polizei, dass der Beschuldigte gerufen habe, er gehöre zur Terrorgruppe „Daesh“, als der Syrer von der McDonald’s-Filiale zur Apotheke gelaufen war. „Daesh“ ist der arabische Name für die Terrormiliz IS. Allerdings, und das irritiert Geheimdienstler im Gespräch mit unserer Redaktion, würden IS-Anhänger diesen Begriff nie benutzen. Im Gegenteil: „Daesh“ gilt als Abwertung, wird von Feinden der Terrorgruppe genutzt. Mehr Hinweise gibt es bisher nicht auf die Zugehörigkeit zum IS. Auch die Organisation selbst hat sich bis zum Dienstagabend nicht über IS-nahe Medien oder in einer Stellungnahme geäußert. Zudem: In der Vergangenheit soll der jetzt Beschuldigte sogar einen mutmaßlichen Anhänger der Terrorgruppe beim Kölner Polizeipräsidium angeschwärzt haben.

In der Vergangenheit hat es immer wieder Aufrufe der IS-Propagandisten an ihre Anhänger im Internet gegeben, Anschläge in Europa oder den USA zu verüben – auf eigene Faust, und mit einfach zu organisierenden Mitteln. Etwa ein Lastwagen, ein Messer oder aber selbst gebastelte Sprengsätze.

Gleichzeitig erkennen Terrorexperten mehrere Fälle in der Vergangenheit, in der psychisch labile Menschen in ihrer Traumatisierung Halt suchen in einer Ideologie. Für die Ermittler könnte es auch persönliche Motive für die Tat geben: Mehrere Jahre scheiterten Versuche des Täters, die Familie zu vereinen. Stauten sich Frust, Angst und Wut auf? Während der Geiselnahme soll der Mann laut Zeugenaussagen die Freiheit für eine Tunesierin gefordert haben. Unklar ist, ob es sich um die Ehefrau des Angreifers handelt.

Wollte der Täter nach Hamburg?

Am Montag habe der Syrer eigentlich nach Hamburg zu einem Freund ziehen wollen, sagte sein Vermieter dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Seine Wohnung in Neuehrenfeld sei schon gekündigt gewesen. Statt nach Hamburg fuhr der 55-Jährige aber offenbar zum Kölner Hauptbahnhof und beging die Geiselnahme.