Der Streit von CDU und CSU um die Flüchtlingspolitik bringt die Koalition in Gefahr. Drei mögliche Szenarien

Was wäre, wenn?

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Kerstin Münstermann

Der Streit von CDU und CSU um die Flüchtlingspolitik bringt die Koalition in Gefahr. Drei mögliche Szenarien

Berlin. Am Tag nach dem politischen Beben zwischen CDU und CSU herrscht in Berlin die Ruhe vor dem Sturm. Nach wie vor stehen sich Kanzlerin Angela Merkel und ihr Bundesinnenminister, CSU-Chef Horst Seehofer, in der Frage von Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze unversöhnlich gegenüber. Welche Szenarien gibt es im Berliner Machtkampf?


1 Was wäre, wenn die Kanzlerin Innenminister Seehofer
entlässt?

Die Gremien der CSU tagen am Montag in München. Erst der Parteivorstand, dann die Landesgruppe. Die Parole für diesen Tag hatte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am Donnerstag schon ausgegeben: Die CSU stelle den Innenminister, die Frage der Zurückweisungen von Migranten an der Grenze falle demnach in seine Zuständigkeit.

Bekommt Seehofer grünes Licht von seinen Parteigremien, wovon auszugehen ist, könnte er die Bundespolizei anweisen, an den Grenzen alle Flüchtlinge abzuweisen, zu denen bereits Daten aus anderen EU-Ländern vorliegen. Die Bundespolizei hatte schon im Herbst 2015 Vorbereitungen für Zurückweisungen getroffen. In München heißt es daher, nötig wäre nur ein Anruf. Ob das sofort am Montag geschehen würde, ist allerdings fraglich.

Das Umfeld Merkels wiederum macht deutlich, dass die Kanzlerin die juristische Sicht der CSU nicht mitträgt. Der Minister würde also mit einem solchen Schritt gegen ihren Willen handeln. Sie könnte dann ihren Minister entlassen. Seehofer könnte die CSU-Minister abziehen, die Regierung aus Union und SPD wäre am Ende. Das müsste aber nicht das Ende der Unionsfraktionsgemeinschaft aus CDU und CSU bedeuten. Das betonen beide Seiten. „Ein Bruch in der Fraktion an diesem Streit kann niemand zum Ziel haben. Das würde sowohl CDU als auch CSU beschädigen. Nur gemeinsam können wir diesen Weg gehen“, sagt etwa der CSU-Abgeordnete Sebastian Brehm. Doch Merkel weiß, dass eine Rauswurf Seehofers auch ihr eigenes politisches Überleben nur schwer möglich macht. Ob sie dann im Bundestag die Vertrauensfrage stellen müsste oder ein konstruktives Misstrauensvotum möglich wäre: Am Freitag wollte im Regierungsviertel diese Möglichkeit noch niemand in Gänze durchdeklinieren.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), ein enger Wegbegleiter von Merkel, enthüllt am Freitagmorgen schon sehr früh bei einer Veranstaltung ehrwürdige Fotografien seiner Vorgänger im Ministeramt. Ein netter Termin, normalerweise. Doch das Zerwürfnis zwischen Merkel und ihrem Innenminister überlagert anderes. „Ich bin davon überzeugt, wir können zu einer gemeinsamen Lösung kommen – unter der Voraussetzung, dass alle konstruktiv und mit Einigungswillen an die Aufgabe herangehen“, sagt der Minister. Doch hört man sich im Umfeld beider Protagonisten um, ist von Einigungswillen eher nicht die Rede. Merkel sitzt am Freitag bei einem Festakt in Altmaiers Ministerium, neben ihr Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Der SPD-Politiker sagt in Richtung Union: „Die Aufgabe, unser Land zu regieren, ist keine Folge von ‚Game of Thrones‘, sondern eine ernste Angelegenheit.“ In der Fantasy-Serie geht es um Machtkämpfe von Herrscherhäusern.


2 ... die Kanzlerin nachgibt?

Der CDU-Fraktionsteil stärkte Merkel zunächst den Rücken. Der Grund ist jedoch vor allem das Auftreten der CSU. Das befremdet die CDUler. Und die CDU eint, dass sie für das Tempo, das die CSU auf einmal macht, kein Verständnis hat. „Das ist Wahnsinn“, sagt ein CDU-Vorstandsmitglied. Allerdings ist auch unter den CDU-Bundestagsabgeordneten die Stimmung schlecht, gerade nach dem Mord an der 14-jährigen Susanna durch einen abgelehnten Asylbewerber. „Viele wollen einfach eine Symbolhandlung, weil staatliche Behörden in der Flüchtlingskrise ganz offensichtlich an so vielen Stellen versagt haben“, beschreibt es ein Abgeordneter. Die Zurückweisung an der Grenze wäre ein solcher symbolischer Akt. Außerdem sollte Merkel klarer ihre Positionen erklären, fordern einige. Der Verweis auf europäische Lösungen klinge nach einem Ausweichmanöver.

Merkel könnte also zu der Einsicht kommen, dass ein Entgegenkommen ihrerseits die Union befrieden und ihre Kanzlerschaft wieder in ruhigeres Fahrwasser bringen würde. Zumal Union und SPD zusammen 399 Sitze im Bundestag haben und damit die Mehrheit der 709 Sitze. Doch ohne die CSU, die 46 Sitze hat, blieben nur 353. Das würde dann zum Weiterregieren nicht mehr reichen. Vielleicht schafft sie eine gesichtswahrende Lösung bis zum EU-Gipfel. Dass sie inhaltlich nachgibt, ist sehr unwahrscheinlich.

3 ... es einen Kompromiss gibt?

Schleswig-Holsteins CDU-Ministerpräsident Daniel Günther sagte es am Donnerstag fast flehentlich: „Aber was alle eint, ist, dass die Unionsfamilie zusammenbleiben muss.“

Die Kompromisslinien, die es bisher gibt, lassen sich allerdings kaum verbinden. Merkel ist im Krisengespräch am Mittwochabend im Kanzleramt an zwei Punkten auf die CSU zugegangen und von ihrer alten Position abgerückt: Zum einen sollen Asylbewerber, die nach einem abgelehnten Antrag erneut einreisen wollen, zurückgewiesen werden. Zum anderen will sie nun statt der gesamteuropäischen Lösung möglichst bis zum EU-Gipfel Ende Juni bilaterale Abkommen mit anderen EU-Staaten für die Rücknahme aushandeln. Alle seien sich einig, dass Asylanträge in dem Land bearbeitet werden sollten, wo die Flüchtlinge registriert seien.

Die CSU wiederum hatte zunächst vorgeschlagen, sofort mit den Zurückweisungen an den deutschen Grenzen zu beginnen – dies aber bei einem Erfolg des EU-Gipfels in zwei Wochen wieder zu beenden. Außerdem habe die CSU den Vorschlag gemacht, jetzt schon weitere Zurückweisungen an den Grenzen zu beschließen – aber nur für den Fall, dass die Verhandlungen auf europä­ischer Ebene scheitern, hieß es. Auch dies habe die Kanzlerin abgelehnt.

Merkel erkennt zwar den Abschreckungsmoment an, mit dem etwa CSU-Landesgruppenchef Dobrindt argumentiert. Aber eine Zurückweisung an der deutschen Grenze hätte aus ihrer Sicht ein doppeltes Problem. Zum einen würden die Kontrollen an den Grenzübergängen bewirken, dass Personen, die eine Abweisung verhindern wollten, einfach die grüne Grenze nutzen würden. Letztlich müsse man um Deutschland eine Mauer bauen, weil es immer weitere Ausweichbewegungen geben würde, argumentierte sie etwa Sonntagabend in der TV-Sendung „Anne Will“. „Ich glaube, dieses Thema hat das Potenzial, Europa – dem Raum der Freizügigkeit, dem Schengen-Raum – schweren Schaden zuzufügen“, warnte sie dann am Dienstag.

Ab dem 28. Juni will Merkel noch einmal mit den europäischen Staats- und Regierungschefs verhandeln. Der Druck durch die CSU dürfte auch die Verhandlungen erschweren. Zudem hat Merkel angekündigt, sich für zwischenstaatliche Rücknahmeverträge einzusetzen. Dazu trifft sie sich am Montag mit dem italienischen Ministerpräsidenten. Am Dienstag empfängt sie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und seine Minister auf Schloss Meseberg. Eine Aufforderung aus Rom und Paris, sich auf eine europäische Lösung zu verständigen, käme Merkel mehr als gelegen. In Frankreich wirkte man ob des Münchner Vorpreschens zumindest verwundert. Doch selbst wenn Merkel und Seehofer sich noch einmal verständigen können – der Riss in der Beziehung der beiden dürfte kaum mehr zu kitten sein.

Die Verletzungen und die Unvereinbarkeit beider Positionen seit dem Herbst 2015 sind zu groß. Dass beide in ihren Ämtern die gesamte Legislaturperiode beenden, darauf will gerade keiner wetten.