Berlin. Nach über einem Jahr hat die türkische Justiz Yücel freigelassen. Doch der Kampf um die Pressefreiheit in der Türkei muss weitergehen.
Deniz Yücel ist endlich frei. Das ist eine großartige Nachricht in Zeiten, in denen schlechte Botschaften aus der Politik die Tagesaktualität prägen.
Ein ganzes Jahr seines Lebens hat die politisch gelenkte türkische Justiz dem Korrespondenten der „Welt“ gestohlen, nur weil er seinen Job machte. Weil er kritisch über die Regierung Erdogan berichtete und sich – wie jeder gute Reporter – nicht vorschreiben ließ, mit wem er sich zu Recherchen und Gesprächen treffen wollte.
Noch immer sitzen 150 Journalisten in türkischen Gefängnissen
Die Freude für Deniz Yücel, seine Familie und alle Kollegen ist berechtigt. Aber sie darf nicht vergessen machen, dass immer noch rund 150 Journalisten und Medienleute in türkischen Gefängnissen einsitzen. Yücels Freilassung ist keine Geste, die wir bejubeln müssen. Oder gar belohnen. Sie ist das Mittel einer unmenschlichen Politik, die mit Geiselnahmen politische Vorteile erzwingen will.
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Dass die Türkei mit der Freilassung Yücels noch lange nicht auf dem Pfad der Tugend ist, machte am Freitag die türkische Justiz klar. Der Staatsanwalt legte seine absurde Forderung nach 18 Jahren Haft für Deniz Yücel vor. Und Richter setzten zur gleichen Zeit ein weiteres Zeichen: Sie verurteilten sechs türkische Journalisten zu lebenslanger Haft, weil sie angeblich geheime Nachrichten zum Putsch über eine Talkshow verbreitet hätten. Die Botschaft ist klar: Die Freilassung Yücels ist nichts als ein wohlkalkulierter Gnadenakt. Alle weiteren Gegner Erdogans haben weiter das Schlimmste zu befürchten.
Mehr Solidarität für die Freiheit der Presse war noch nie
Gute Demokraten dürfen sich auf dieses miese Spiel der türkischen Führung nicht einlassen, und daher kommt nach der Freilassung von Deniz Yücel der wahre Härtetest für die Moral: Kämpfen die „Free Deniz“-Aktivisten weiter für die Pressefreiheit in der Türkei? Oder geht man schnell zur Tagesordnung über? Geschieht Letzteres, hätten die Feinde der Freiheit gewonnen.
Bei aller Wut über den schamlosen Angriff auf die Pressefreiheit hat die Haft Yücels immerhin eine positive Erkenntnis gebracht. Die gesamte Gesellschaft hat eindrucksvoll gemeinsam für die gute Sache gekämpft. Die angebliche Entfremdung zwischen Bürgern, Politikern und Medien ist im Fall Yücel eine Mär.
Im Gegenteil: Mehr Solidarität für die Freiheit der Presse war noch nie. Und das ist eine wirklich erfreuliche Nachricht in dieser hässlichen Geschichte.
Erfolg für Gabriel und die Kanzlerin
Beruhigend ist auch, dass die Politik doch noch in der Lage ist, wichtige Dinge zu bewegen. Wer hätte das gedacht? Die Freilassung Yücels ist ein Lichtblick für die CDU-Kanzlerin und ihren SPD-Außenminister im grauenhaft tristen Regierungsalltag. Beide haben es im schlimmsten GroKo-Getümmel offensichtlich geschafft, vertrauensvoll und konsequent zusammenzuarbeiten, was die Laune auf einen Neustart der großen Koalition zumindest etwas hebt.
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Sigmar Gabriel war sich sogar nicht zu schade, seinen heimischen Wintergarten in Goslar in eine türkische Teestube zu verwandeln. Ganz persönlich schenkte er den „Chai“ nach, um den ehrpusseligen Türken die Entscheidung für die Freilassung Yücels zu erleichtern. Wenn diese Symbolpolitik für die Fotografen der höchste Preis der Freiheit war – geschenkt!
Hat Sigmar Gabriel doch noch eine Chance?
Vielleicht gibt die designierte SPD-Chefin Andrea Nahles dem ungeliebten Parteifreund Sigmar Gabriel nach der spektakulären Freilassung des Berliner Journalisten ja doch noch die Chance auf den Verbleib im Auswärtigen Amt. Der SPD würde es in 16-Prozent-Zeiten sicher helfen. Und verdient hätte es Sigmar Gabriel allemal.