Berlin. Viereinhalb Monate nach der Bundestagswahl sind die Weichen für eine neue große Koalition gestellt – und die SPD steht vor dem nächsten großen personellen Umbruch. Martin Schulz will den Parteivorsitz an Fraktionschefin Andrea Nahles abgeben und Außenminister unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) werden.
Wichtigster SPD-Mann im Kabinett soll Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz als Vizekanzler und Finanzminister werden. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer soll ein neu zugeschnittenes Superministerium für Inneres, Heimat und Bau bekommen.
463.000 SPD-Mitglieder haben das letzte Wort
Das ist das Ergebnis eines dramatischen Finales der 13-tägigen Koalitionsverhandlungen, das am Mittwochmorgen erst nach 24 Stunden endete. „Es hat sich gelohnt“, sagte Merkel anschließend, die nun zum vierten Mal zur Kanzlerin gewählt werden könnte. Sicher ist aber noch nichts: Die rund 463.000 SPD-Mitglieder haben das letzte Wort. Sie stimmen bis Anfang März über den Koalitionsvertrag von Union und SPD ab.
Der SPD-Vorstand hat den Koalitionsvertrag nach Worten von Parteichef Martin Schulz mit großer Mehrheit gebilligt und den Mitgliedern die Zustimmung empfohlen. Bei einem Ja der Basis kann das neue Kabinett wenige Tage später im Bundestag vereidigt werden, womit die mit Abstand längste Regierungsbildung in der Geschichte der Bundesrepublik nach fast einem halben Jahr vollbracht wäre.

Merkel: Vertrag ist gute Grundlage für stabile Regierung
Merkel würdigte den ausgehandelten Koalitionsvertrag als gute Grundlage für eine stabile Bundesregierung. Die Anstrengungen bei den Verhandlungen der vergangenen Wochen hätten sich gelohnt, sagte Merkel am Mittwoch in Berlin, nachdem die mehr als 90 Unterhändler von CDU, CSU und SPD dem Vertragswerk in Berlin zugestimmt hatten.
Nun gelte es, um Zustimmung zum Koalitionsvertrag zu werben, sagte die CDU-Vorsitzende auch vor dem Hintergrund der anstehenden SPD-Mitgliederentscheidung, von deren Ja eine Regierungsbildung abhängt. Die CDU werde auf einem Parteitag über den Vertrag abstimmen.
Es gebe eine Vielzahl konkreter Maßnahmen und Zeitpläne, anhand derer überprüft werden könne, ob die Regierung ihre Ziele auch umsetze, sagte Merkel. In vielen Bereichen wie Bildung, Forschung und Digitalisierung seien große Maßnahmenpakete geschnürt worden. Man sei um Balance bemüht gewesen, gerecht zu verteilen und solide zu wirtschaften. Gerade in sozialen Bereichen solle Menschen mehr Sicherheit gegeben werden. Schulz sagte, der Koalitionsvertrag trage „in einem großen Maße sozialdemokratische Handschrift“ (der komplette Entwurf ist hier abrufbar).

SPD bekommt Außen- und Finanzministerium
Neben den letzten inhaltlichen Knackpunkten wurde in der Schlussrunde auch schon die Postenverteilung weitgehend geklärt. Die SPD, die bei der Bundestagswahl nur 20,5 Prozent der Stimmen erhalten hatte, schnitt dabei überraschend gut ab. Sie soll sechs Ministerien bekommen, darunter die prestigeträchtigen Ressorts Außen, Finanzen und Arbeit. Hinzu kommen das Familien-, das Justiz- und das Umweltministerium.
Schulz will nach Angaben aus Parteikreisen nicht nur auf den Parteivorsitz, sondern auch auf den Posten des Vizekanzlers verzichten. Er war erst vor elf Monaten mit dem Rekordergebnis von 100 Prozent an die Spitze der Sozialdemokraten gewählt und im Dezember im Amt bestätigt worden. Seit der verlorenen Bundestagswahl gab es aber massiven Unmut in der Partei über seine Amtsführung. Sein Eintritt ins Kabinett ist innerparteilich umstritten, weil Schulz einen solchen Schritt nach der Wahl zunächst kategorisch ausgeschlossen hatte.
Groko-Gegner werfen Schulz mangelnde Glaubwürdigkeit vor
GroKo-Gegner werfen ihm deswegen mangelnde Glaubwürdigkeit vor. Das Aufgeben des Parteivorsitzes könnte mit Blick auf den Mitgliederentscheid auch ein Zugeständnis an die Kritiker sein. Nahles wäre die erste Parteivorsitzende in der mehr als 150-jährigen SPD-Geschichte.
Die personelle Neuaufstellung hat vor allem einen Leidtragenden: den bisherigen Vizekanzler und Außenminister Sigmar Gabriel. Der langjährige frühere Parteichef wird dem neuen Kabinett möglicherweise gar nicht mehr angehören und wäre dann nur noch Hinterbänkler im Bundestag ohne einen Führungsposten – und das, obwohl er in allen Ranglisten der beliebtesten deutschen Politiker ganz oben dabei ist (die wahrscheinliche Aufteilung der Ministerien gibt es hier in der Übersicht).
CDU kommt bei Postenverteilung schlecht weg
Die CDU kommt bei der Postenverteilung relativ schlecht weg. Die Partei verliert mit dem Innen- und dem Finanzressort zwei der wichtigsten Ministerien. Der bisherige Innenminister Thomas de Maizière zieht sich ganz aus der Bundesregierung zurück. Merkel räumte ein, dass der Verzicht auf diese beiden Ressorts vielen schwer falle. „Dass die Frage, wer bekommt welches Ressort, eine nicht ganz einfache war, das will ich gerne hier verraten“, sagte die Kanzlerin.

Es bleiben der CDU Wirtschaft, Gesundheit, Verteidigung, Bildung und Landwirtschaft. Der bisherige Kanzleramtschef Peter Altmaier soll nach Informationen der dpa das Wirtschaftsressort übernehmen, Ursula von der Leyen bleibe Verteidigungsministerin, hieß es. Für das Ressort Ernährung und Landwirtschaft galt die rheinland-pfälzische CDU-Chefin Julia Klöckner als Favoritin.
Die CSU übernimmt neben dem Innenministerium Verkehr und Entwicklungshilfe. Parteichef Horst Seehofer wird als neuer Innenminister gehandelt. Er zeigte sich mit dem Ergebnis der Verhandlungen zufrieden. „Passt scho“, kommentierte er das Ergebnis auf Bayerisch. Ob der wichtige Posten des Kanzleramtschefs, der die Regierungsarbeit koordiniert, an CSU oder CDU geht, blieb zunächst noch offen.
Neue GroKo wäre die vierte in der Bundesrepublik
Das Bündnis aus Union und SPD wäre das vierte dieser Art in der bundesdeutschen Geschichte und die dritte große Koalition unter Merkel. Der 177-seitige Koalitionsvertrag trägt den Titel „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Darin heißt es: „Wir wollen sichern, was gut ist, aber gleichzeitig den Mut zur politischen Debatte, zu Erneuerung und für Veränderung beweisen.“
Inhaltlich war vor allem die Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik bis zuletzt strittig. Die SPD hatte sich zum Ziel gesetzt, die Ungleichbehandlung von Privat- und Kassenpatienten zumindest einzudämmen. Dafür soll nun eine Kommission eingesetzt werden, die eine Angleichung der Arzthonorare für gesetzlich und privat Versicherte prüfen soll. Aus SPD-Sicht ist das weniger als von vielen erhofft.
Jusos starten Freitag Nein-Kampagne zum SPD-Entscheid
Union und SPD einigten sich auch auf ein Aus für lange Ketten befristeter Arbeitsverhältnisse und eine Eindämmung sachgrundloser Befristungen. Das von der SPD ursprünglich geforderte Verbot dieser Arbeitsverhältnisse wird nicht kommen.
Der Wortführer der Groko-Gegner in der SPD, Juso-Chef Kevin Kühnert, kritisierte das Zustandekommen der Einigung auf Twitter: „NoGroko bedeutet auch die Absage an den politischen Stil, der heute aufgeführt wird“, schrieb er. Die Jusos starten am Freitag ihre Nein-Kampagne zum Mitgliederentscheid, die Parteiführung will erst ab nächster Woche für den Koalitionsvertrag werben. (dpa/rtr)
