Die wichtigsten Fakten zum Referendum in der Türkei
Präsidialsystem
Die wichtigsten Fakten zum Referendum in der Türkei
| Lesedauer: 5 Minuten
Gerd Höhler
Türkei: Darum ist Erdogans Referendum so umstritten
Türkei: Darum ist Erdogans Referendum so umstritten
Türkei-Referendum: Erdogan wirbt für Stimmen, auch in Deutschland – warum ist ihm diese Verfassungsänderung so wichtig? Die wichtigsten Fakten.
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Wenn Recep Tayyip Erdogan das Referendum gewinnt, ist er mächtiger als der US-Präsident. Alle wichtigen Informationen zur Abstimmung.
Ankara.
Am Sonntag stimmen die Türken über eine Verfassungsänderung ab, mit der ein Präsidialsystem eingeführt werden soll. Worum geht es? Fragen und Antworten:
Worüber entscheiden die Türken bei der Volksabstimmung?
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung wollen die Verfassung in 18 Punkten ändern, um die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem zu ersetzen. Es soll dem Staatschef sehr weitgehende Kompetenzen geben.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Zugleich beschneidet es die Befugnisse des Parlaments. Nachdem die Nationalversammlung die Änderungen bereits im Januar mit Dreifünftelmehrheit billigte, haben nun die Wähler in einer Volksabstimmung das letzte Wort.
Welche Rechte bekäme der Staatspräsident?
Er wäre Staatsoberhaupt und Regierungschef in einer Person. Der künftige Präsident kann mit Dekreten regieren, die Gesetzeskraft haben – ohne Zustimmung des Parlaments. Er beruft und entlässt seine Vizepräsidenten und die Minister, ernennt die Rektoren der Universitäten, hat wesentlichen Einfluss auf die Berufung der obersten Richter und Staatsanwälte und kann den Notstand ausrufen.
Anders als bisher steht der Präsident nicht mehr über den Parteien, sondern kann zugleich Parteivorsitzender sein. Parlament und Präsident werden jeweils am gleichen Tag gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Präsident im Parlament eine Mehrheit hat.
Wäre er damit mächtiger als etwa der französische Präsident oder der Präsident der USA?
Eindeutig ja. Zwar ist auch der US-Präsident Staats- und Regierungschef in Personalunion. Der Kongress bildet aber als oberstes Gesetzgebungsorgan ein starkes Gegengewicht. Der französische Präsident hat gegenüber der Regierung eine bedeutende Machtfülle, fungiert aber nicht gleichzeitig als Premierminister.
In beiden Ländern gibt es ein ausgeprägtes System der Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz. Das schützt vor Machtmissbrauch. Was Erdogan anstrebt, erinnert dagegen an die nahezu unumschränkte Machtfülle mittelasiatischer oder lateinamerikanischer Staatschefs.
Wie sähe die künftige Rolle des Parlaments aus?
Die Zahl der Abgeordneten wird zwar von 550 auf 600 erhöht, das Parlament verliert aber viele seiner Befugnisse. Es kann zwar Gesetze beschließen, aber dafür ist eine absolute Mehrheit nötig, sofern der Präsident sein Veto einlegt.
Das Parlament wirkt bei der Berufung der Minister nicht mit und kann ihnen auch nicht das Misstrauen aussprechen. Der Präsident kann das Parlament überdies jederzeit nach Gutdünken auflösen und Neuwahlen herbeiführen.
Erdogan verteidigt sein System unter anderem damit, es werde dem Land einen Wirtschaftsaufschwung bringen – ein realistisches Versprechen?
Auch in autoritär geführten Ländern kann die Wirtschaft florieren, siehe China. Die türkische Wirtschaft kämpft allerdings mit Strukturproblemen. Ob die immer wieder aufgeschobenen Reformen unter einem nahezu allmächtigen Präsidenten endlich in Gang kämen, ist keineswegs sicher.
Überdies ist die Türkei wirtschaftlich eng mit der EU verflochten. Dorthin gehen die meisten Exporte, von dort kommen die meisten Investitionen. Viele Wirtschaftsführer sehen deshalb Erdogans anti-europäische Tiraden mit Sorge.
Wer ist für das Präsidialsystem, wer dagegen?
Im Parlament bekam die Regierungspartei AKP bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung Unterstützung aus den Reihen der ultra-nationalistischen Oppositionspartei MHP. Für ein Nein plädieren die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, und die pro-kurdische Partei HDP. Sie fürchtet eine „Diktatur“. Auch zahlreiche linke Splitterparteien, Gewerkschaften und Verbände sind gegen die Verfassungsänderung.
Zwar gibt es auch innerhalb der regierenden AKP und in den Reihen der ultra-rechten MHP kritische Stimmen gegen das Präsidialsystem. Die türkische Öffentlichkeit erfährt aber davon wenig. Im Wahlkampf auf den Straßen und in den Medien dominiert die Ja-Kampagne.
Warum hat sich der Wahlkampf auch nach Europa verlagert?
Bei dem Referendum sind 2,8 Millionen Auslandstürken wahlberechtigt. In Deutschland lebt rund die Hälfte von ihnen, nämlich 1,4 Millionen. Deutschland ist damit nach Istanbul, Ankara und Izmir der viertgrößte türkische Wahlbezirk. Die Stimmen der Auslandstürken sind für Erdogan deshalb besonders wichtig, weil er unter ihnen mehr Anhänger hat als im eigenen Land.
Was sagen die Meinungsumfragen?
Während in den vergangenen Wochen in manchen Umfragen die Nein-Sager knapp vorn lagen, führt in den jüngsten Befragungen meist das Ja. Zuverlässige Prognosen sind aber auf Grundlage dieser demoskopischen Erhebungen nicht möglich, zumal die Meinungsforscher sich bei Volksabstimmungen mit Vorhersagen schwer tun – der Brexit lässt grüßen.
Seit seinem ersten Wahlsieg 2002 hat Erdogan ein Dutzend Wahlkämpfe geführt und alle gewonnen. Es wäre eine große Überraschung, wenn er diese Abstimmung, bei der es für ihn um alles geht, verlieren würde.