Berlin/Dortmund. Jetzt erst recht. Am Morgen steht für Thomas de Maizière (CDU) fest: Nach dem Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund muss er an Ort und Stelle sein. Der Innenminister ist häufiger im Stadion, schließlich ist er für den Sport zuständig und nebenbei: BVB-Fan. Aber an diesem Mittwoch ist sein Besuch im Signal-Iduna-Park vor allem eines, ein politisches Statement: Wir lassen uns nicht unterkriegen.
Wenn das Ziel der Täter größtmögliche Öffentlichkeit war, hält die Politik größtmöglich dagegen, de Maizière ebenso wie Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), auch sie sitzt im Stadion, als das am Vortag abgesagte Spiel gegen AS Monaco nachgeholt wird.

Es ist zwar ein kalkuliertes Risiko, aber – ein Risiko. Denn: „Wir müssen davon ausgehen, dass es einen sogenannten Gefahrenüberhang gibt“, erläutert NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD). Fakt ist, die Täter sind noch nicht gefasst sind, haben aber weitere Aktionen angekündigt, „das werden wir ernstnehmen“. Das passt zur verworrenen Nachrichtenlage – auch 24 Stunden danach – und den gegensätzlichen Bekennerschreiben. Was wir über den Anschlag von Dortmund wissen, was nicht. Die wichtigsten Fragen im Überblick.
• Wie verlief der Anschlag?
Es ist 19.15 Uhr, anderthalb Stunden vor Anpfiff, als der BVB- Mannschaftsbus auf dem Weg vom Team-Hotel zum Dortmunder Stadion die Wittbräucker Straße passiert. Bei Haus Nummer 563 detonieren drei Sprengsätze in einer Hecke neben der Straße. Gerade als der Bus mit den Spielern dort vorbeifährt. Es kann kein Zufall sein. Es ist ein Anschlag: Zwei Scheiben des Busses zerbersten. Der Spieler Marc Bartra wird an der Hand verletzt, ein Polizist, der den Bus auf dem Motorrad begleitet, erleidet ein Knalltrauma.
Die Bomben sind mit Metallstiften gefüllt, sie rasen wie Geschosse aus dem Sprengstoff. Ein Metallstift bohrt sich in die Kopfstütze eines der Sitze im Bus. Die Wirkung des Sprengstoffs liegt bei mehr als 100 Metern. Dies gibt die Staatsanwaltschaft später aus den Ermittlungen bekannt.
Am Tag nach der Tat untersuchen Kriminaltechniker sowohl das explosive Gemisch als auch die Zündung. Bisher ist unklar, ob die Bomben über einen Fernzünder aktiviert wurden – etwa über präparierte Handys oder Garagenfernbedingungen. Dann hätten der oder die Täter dem Bus in Sichtweite auflauern müssen. Eine andere Option: Die Angreifer installierten vor der Tat eine Lichtschranke, die den Sprengsatz zündet, sobald der Bus den Tatort passiert. Beides setzt bei den Tätern Kenntnisse von Bombenmechanik oder Militärtechnik voraus.
• Wer steckt hinter den Anschlägen?
Die Hintergründe liegen nach Jägers Darstellung „noch völlig im Dunkeln“. Der Generalbundesanwalt hat allerdings nicht zufällig die Ermittlungen übernommen. Aufgrund der Tatmodalitäten geht man in Karlsruhe von Terroranschlag aus. Dafür spricht die Professionalität der Täter. In Frage kommen islamistische Extremisten, Aktivisten aus der linken Szene und nicht zuletzt Rechtsradikale, die in Dortmund stark verankert sind, gerade in den Reihen der BVB-Hooligans. Gegen die geht der Verein seit den Ausschreitungen beim Spiel gegen RB Leipzig hart vor.

• Gibt es schon eine heiße Spur?
Die Ermittler scheinen jedenfalls das islamistisch angehauchte Bekennerschreiben ernst zu nehmen. Zum einen wird es gerade von Islamwissenschaftlern untersucht, zum anderen wurden Wohnungen durchsucht und zwei Verdächtige festgenommen. Beide kommen aus dem islamistischen Milieu, aber bei ihnen fehlt nach Informationen unserer Redaktion ein Bezug zu Dortmund. Die Beweislage scheint dünn zu sein, ein Haftbefehl ist denn auch noch nicht ergangen, wird aber zumindest für einen der zwei Verdächtigen ernsthaft geprüft. Die Auswertung der Spurensicherung hat allerdings gerade erst begonnen.
• Was geht aus den Bekennerschreiben hervor?
In den Stunden nach dem Anschlag tauchen zwei Bekennerschreiben auf – ein islamistisches und ein antifaschistisches. Bei dem islamistisch motivierten Schreiben, das dieser Redaktion vorliegt, handelt es sich um einen simplen bedruckten DIN-A4-Zettel, ein Text mit acht Sätzen – und vielen Rechtschreibfehlern.
Es beginnt mit: „Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen“ – eine Einleitung, die typisch für Islamisten ist. Dann heißt es weiter: „12 ungläubige würden von unseren Gesegneten Brüder in Deutschland getötet“. Dies ist offensichtlich eine Referenz auf den Anschlag von Anis Amri in Berlin im Dezember, zwölf Menschen starben.

Danach attackieren der oder die Verfasser die Kanzlerin direkt: „Aber anscheinend scherst du dich Merkel nicht um deinen kleinen dreckigen Untertanen“ – auch hier mit mehreren Sprachfehlern. Und weiter: „Deine Tornados fliegen immer noch über dem Boden des Kalifats, um Muslime zu Ermorden.“ Danach folgt eine radikale Ankündigung, in der die Autoren „ungläubigen Schauspieler, Sänger, Sportler“ und „Prominenten“ mit dem Tod drohen.
Ihre Forderungen: Die Bundesregierung solle die deutschen Tornados abziehen, die in der Türkei im Rahmen ihrer Aufklärung im Syrien-Krieg stationiert sind. Und die Autoren verlangen die Schließung des amerikanischen Militärflugplatzes Ramstein in Rheinland-Pfalz. Einen Absender oder ein Symbol einer Terrororganisation ist auf dem Bekennerschreiben nicht vermerkt.
Das zweite, angeblich antifaschistische Bekennerschreiben, wurde auf der linksautonomen Internetseite „Indymedia“ veröffentlicht. Die Verfasser werfen dem BVB vor, sich nicht genug gegen „Rassist_innen“ und „Nazi_innen“ in der Dortmunder Fanszene einzusetzen. Der Angriff auf den Bus sei „nur ein Symbol“, keineswegs sollten Spieler verletzt werden, heißt es. Und am Ende: „Antifa heißt Angriff! Deutschland verrecke!“
• Wie plausibel sind die Bekennerschreiben?
An der Echtheit des mutmaßlich linksradikalen Schreibens haben sowohl die Staatsanwälte als auch Extremismus-Expertenerhebliche Zweifel. Und auch die Betreiber der Webseite „Indymedia“ löschen kurz darauf den Beitrag und sprechen von einem „nazifake“ – also einer Fälschung. Der wenig theoretische Duktus des Schreibens spricht gegen die linke Szene.
Als erstes reagierte die rechtsradikale Webseite „pi-news“ auf das Schreiben und verknüpfte dies mit Hetze gegen den politischen Gegner, auch das ist auffällig. Schon bei dem Bombenanschlag auf eine Dresdner Moschee war ein gefälschtes Bekennerschreiben auf der linken Plattform veröffentlicht worden.
Vielversprechender sind die verteilten Bekennerschreiben in der Nähe des Tatorts – und doch sind auch sie für islamistische Texte sehr ungewöhnlich und geben der BKA-Ermittlergruppe „Bus“ Rätsel auf. Die Papierzettel erinnern eher an Schreiben aus RAF-Zeiten. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ hat aber eine eingespielte Dramaturgie bei Bekennerschreiben – meist aufwendig verbreitet über soziale Netzwerke und Medienkanäle wie die „Amaq Agentur“, in vielen Fällen verbunden mit einer Video-Botschaft etwa des Attentäters. Hier aber fehlen sowohl ein Unterzeichner als auch IS-Flaggen oder IS-Symbole wie etwa arabische Kalligrafie.
Typisch sind die Huldigungen „Allahs“ und der Missbrauch des Islams als Legitimation für Gewalt. Das spricht für Islamisten. Doch die Wortwahl wirkt wenig professionell – eher amateurhaft. Der Inhalt attackiert sowohl die „Ungläubigen“, aber auch Kanzlerin Merkel direkt. Das Schreiben hat einen starken Deutschland-Bezug. Zumindest für den IS ist ungewöhnlich, dass er die Schließung der US-Airbase „Ramstein“ fordert. Bekanntes Muster ist eher die Forderungen nach einem Abzug der deutschen Tornados aus dem Kriegsgebiet in Syrien. Für die Ermittler wäre dieses Bekennerschreiben ein wichtiger Baustein bei der Suche nach den Tätern. Sofern es keine Fälschung ist.