Berlin. Die ungarische Regierung verschärft die Gesetze in der Flüchtlingskrise – und die Bundesregierung ist alarmiert. Können Asylsuchende noch nach Ungarn zurückgeschickt werden? Offenbar hat das Bundesinnenministerium (BMI) Zweifel, ob die ungarischen Behörden die EU-Regeln zur Unterbringung von Flüchtlingen und die EU-Standards für die Asylverfahren noch erfüllen. Laut einem Erlass des BMI vom 6. April schickt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Schutzsuchende für ein EU-Asylverfahren nur noch in das östliche EU-Land zurück, sofern dortige Behörden dem BAMF die EU-Standards in jedem Einzelfall vorab garantieren.
Mehrfach ging die Regierung in Budapest rigide gegen Flüchtlinge vor. Zuletzt beschloss das Parlament, dass Flüchtlinge während des gesamten Asylverfahrens in Containercamps an der Grenze zu Serbien interniert werden können – nicht selten monatelang. Die Vereinten Nationen und Nicht-Regierungsorganisationen wie auch die Opposition im Bundestag üben scharfe Kritik an dem Vorgehen.
Unterbringung nach EU-Norm gefordert
Und offenbar ist auch die Bundesregierung besorgt über die Lage in Ungarn. Konkret heißt es nun in dem Erlass des BMI an das BAMF: Bei „Dublin-Übernahmeersuchen an Ungarn möchten wir Sie bis auf Weiteres bitten, von den ungarischen Behörden bei Übernahmeersuchen eine Zusicherung zu erbitten“ – darüber, dass die Flüchtlinge gemäß EU-Norm untergebracht sind und ihr Verfahren den Regeln der EU-Richtlinien entspricht. „Ohne eine derartige Zusicherung von den ungarischen Behörden soll keine Überstellung erfolgen“, so das BMI an das BAMF. Wie detailliert diese Garantie aus Ungarn aussehen muss, dazu sagt das Innenministerium nichts.
Gemäß der sogenannten Dublin-Verordnung der EU muss ein Flüchtling in dem EU-Staat Asyl beantragen, in dem er nach seiner Ankunft in Europa zuerst registriert wurde – meist in Griechenland, Italien, Bulgarien oder Ungarn.
Fast 12.000 Asylsuchende sollten 2016 zurück nach Ungarn
Somit „überstellt“ Deutschland nach einer Prüfung regelmäßig Flüchtlinge nach Ungarn, auch wenn sie es bis in die Bundesrepublik geschafft haben. In Ungarn wird dann entschieden, ob der Mensch Asyl bekommt. 2016 wollte das BAMF fast 12.000 Asylsuchende nach Ungarn für das Verfahren zurückschicken. Im Januar und Februar 2017 fast 900.
Die ungarischen Behörden genehmigten jedoch nur einen Bruchteil dieser „Dublin-Rückführungen“ – in den ersten zwei Monaten 2017 schickte das BAMF nur 23 Flüchtlinge für ihr Asylverfahren zurück nach Ungarn. 2016 waren es insgesamt 294 – von fast 12.000 Gesuchen aus Deutschland. Zudem muss die „Überstellung“ gemäß Dublin-Regel innerhalb eines halben Jahres erfolgen. Verpassen die deutschen Behörden diese Frist, bleibt das Asylverfahren hier.
Wie sich nun der Erlass der Bundesregierung auf die Zusammenarbeit zwischen deutschen und ungarischen Behörden auswirken wird, ist unklar. Zumal: Einen Fall der Abschiebung zum Verfahren nach Ungarn gab es nach Angaben des BMI seit dem neuen Erlass noch nicht.
Flüchtlingshilfswerk gegen eine Rückführung nach Ungarn
Die Grünen im Bundestag üben scharfe Kritik an der Entscheidung der Bundesregierung. „Dublin-Rücküberstellungen nach Ungarn sind ein Verstoß gegen Menschen- und Grundrechte und müssen daher ausgesetzt werden“, sagte die flüchtlingspolitische Sprecherin Luise Amtsberg unserer Redaktion. Der Bundesregierung sei „ein vermeintliches Funktionieren der Dublin-Verordnung auf Biegen und Brechen“ wichtiger als „das Wohl der Schutzsuchenden“.
Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat die EU aufgefordert, keine Asylbewerber mehr nach Ungarn zurückzuschicken. Auch das Bundesland Schleswig-Holstein ist skeptisch. „Änderungen in der Asylgesetzgebung Ungarns und Berichte über den Umgang mit Flüchtlingen haben in den letzten Monaten bei mir Zweifel geweckt, ob das ungarische Asylsystem noch ausreichend von EU-rechtlichen Vorgaben gedeckt ist“, sagte Innenminister Stefan Studt (SPD) unserer Redaktion.
Der Innenexperte der Unionsfraktion im Bundestag, Armin Schuster, sieht das anders. „Ungarn ist trotz der Transitlager ein sicheres Land für Flüchtlinge“, sagte Schuster dieser Redaktion. Die Dublin-Verordnung müsse weiterhin angewandt werden, auch wenn Flüchtlinge dort in Zentren an der Grenze zunächst festgehalten werden. „Sicher erfüllen nicht alle EU-Staaten den deutschen Standard bei der Unterbringung und Versorgung der Menschen, aber wir können deshalb nicht mit jedem dieser Länder die Zusammenarbeit einstellen.“
„Systemische Mängel“ im Asyl- und Aufnahmeprozedere
Die Debatte darum, in welche EU-Länder deutsche Behörden Flüchtlinge zurückschicken, ist heikel. Bundesregierung und EU-Kommission haben ein Interesse daran, die Dublin-Verordnung durchzusetzen. Zum einen weil die EU insgesamt verhindern will, dass ein Asylsuchender in zwei Staaten (etwa Ungarn und Deutschland) einen Antrag auf Schutz in Europa stellt. Zum anderen weil sie nach dem Chaos von 2015 wieder zur alten Ordnung finden will. Für die deutschen Behörden gilt auch: Jedes Verfahren mehr in Ungarn ist eines weniger hierzulande.
Aus diesen Gründen schieben Behörden seit Mitte März nach Griechenland ab. Das Dublin-Verfahren mit dem Land war seit 2011 ausgesetzt, weil Höchste EU-Gerichte „systemische Mängel“ im Asyl- und Aufnahmeprozedere feststellten. Jetzt sieht die EU Fortschritte in Griechenland und genehmigt Staaten wie Deutschland Rückführungen unter bestimmten Auflagen – noch strikter als bei Ungarn.
Regierung: Aussetzung gab es nie
Zu Ungarn gibt es noch keine entsprechende EU-Regelung. Also preschte die Bundesregierung selbst voran. Ende März beschloss Ungarn das Gesetz, schon kurz danach bestätigte das BMI auf Anfrage der Grünen, dass man Dublin-Überstellungen prüfe.
In diesen Tagen sorgte das Prüfen offenbar für Unsicherheit, auch in manchen Behörden. In einem Schreiben der Bundespolizei vom 4. April heißt es sogar, die Rückführungen seien ausgesetzt – mit Beschluss des BMI. Auch unter Flüchtlingsorganisationen machte eine solche Information die Runde. Offenbar wollte die Bundespolizei für die Zeit der Prüfung keine Risiken eingehen und etwa Asylsuchende an der Grenze zurückweisen oder in Haft nehmen, sofern diese bereits in Ungarn registriert waren. Die Bundesregierung bleibt dabei: Eine Aussetzung gab es nie – und Abschiebungen nach Ungarn nun nur unter Auflagen. Trotz der Bedenken über Grenzlager und Gesetzesverschärfungen.