Berlin. Nadia soll von Berlin zurück nach Afghanistan. Obwohl sie dort als geschiedene Frau die Verfolgung durch ihren Ex-Mann fürchten muss.

Unbedeutend sah er aus, der weiße Umschlag. So unbedeutend, wie jener Augusttag, an dem ihn Nadia aus dem Briefkasten holte. Leicht bewölkt, nicht zu warm, nicht zu kalt. Nadia packte den Brief in die Handtasche, zu den Kartoffelchips und der Thermoskanne mit Schwarztee, und machte sich mit ihrem Sohn auf den Weg in den Park. Vier Jahre zuvor, im Iran, hatte sich die Afghanin Nadia von ihrem afghanischen Mann scheiden lassen. Er sagte: „Ich will die Kinder. Und dein Leben mache ich zur Hölle.“ Zwischen damals und dem Augusttag in Berlin liegen Schläge, Todesdrohungen, eine Entführung, ein Entführungsversuch, das Mittelmeer, Fußmärsche im Schnee. Zehn Monate Flucht. Asylantrag. 17 Monate Warten.

Das alles sollte längst vorbei sein, als Nadia sich auf ihre rote Decke im Park setzt. Die Afghanin mit den hohen Wangenknochen und violett geschminkten Lippen trägt ihre schwarzen Haare in Deutschland offen. Sie beobachtet ihren siebenjährigen Sohn beim Spielen. Ach ja, der Brief. Vom Anwalt. Ausfertigung: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. „B E S C H E I D in dem Asylverfahren des/der ...“ Darunter der Name des Kindes und Nadias Name, der in Wirklichkeit ein anderer ist.

Die Begründung versucht sie erst gar nicht zu verstehen

Die achtseitige Begründung in Amtsdeutsch versucht sie erst gar nicht zu verstehen. Ein Blick auf die sechs Punkte unter dem Wort Entscheidung reicht: Dreimal liest sie dort das gefettete Wörtchen „nicht“, einmal „abgelehnt“. Die Mutter schluchzt, der Sohn setzt sich zu ihr. Sie müssen zurück. Im Bescheid steht: „Sollten die Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, werden sie nach Afghanistan abgeschoben.“ Ein Leben in Afghanistan? Für Nadia unvorstellbar. Sie ist der Schandfleck auf der Familienehre ihres Ex-Mannes. So lange sie am Leben ist.

Asylrechtsanwalt Matthias Lehnert hält die Entscheidung des BAMF für falsch. Nadia müsse als Flüchtling anerkannt werden. In seiner Berliner Kanzlei besprechen sie die Klage gegen den Bescheid
Asylrechtsanwalt Matthias Lehnert hält die Entscheidung des BAMF für falsch. Nadia müsse als Flüchtling anerkannt werden. In seiner Berliner Kanzlei besprechen sie die Klage gegen den Bescheid © Sergej Glanze | Sergej Glanze

Von Nadias Geschichte, die sie auf der Flucht vor ihrem Ex-Mann im März 2015 bis nach Deutschland führte, gibt es zwei Versionen. Jene, die sie mir, dem Journalisten, erzählt, ihrem Anwalt und, so Nadia, auch bei der dreistündigen Anhörung im Bundesamt. Und die Version, auf der die Entscheidung des Bundesamtes fußt. Die zwei Fassungen unterscheiden sich in wenigen Punkten. Nur dürften die entscheidend für Nadias Ablehnung gewesen sein.

Glaubt man diversen Flüchtlingsorganisationen und Asylanwälten, dann stehen diese Unterschiede für eine generelle Stoßrichtung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Die Bundesregierung treibt einen raschen Abbau der Aktenberge voran. Seit Monaten setzt das BAMF die Forderungen in die Tat um. Im Juni fällte das Amt bundesweit 35.931 Entscheidungen über Asylanträge. Sechs Monate später, im Dezember, waren es schon mehr als doppelt so viele. Die Kritiker sagen: Mit dem Anstieg hat sich auch die Zahl der Fehlentscheidungen vervielfacht. Besonders betroffen seien Afghanen. Stimmt nicht, sagt das BAMF. Nadia sagt: „Wenn sie mich zurückschicken, sterbe ich.“

So erzählt Nadia ihre Geschichte: Sie wird in Afghanistan geboren, wächst als Flüchtlingskind im Iran auf, wird minderjährig zwangsverheiratet, um eine Familienfehde zu beenden. Sie bringt einen Sohn zur Welt, später einen zweiten. Ihr Mann nimmt Crystal Meth und trinkt. Nadia hält er wie in einem Gefängnis, mit Schlägen macht er sie gefügig, bedroht sie und die Kinder mit Messern und Schusswaffen. 2012 hält es Nadia nicht mehr aus, lässt sich scheiden. Sie behält den jüngeren, er den älteren Sohn.

Ex-Mann fühlt sich in seiner Ehre verletzt

Der Ex-Mann sieht sich in seiner Ehre beraubt. Er entführt den jüngeren Sohn. Mithilfe der iranischen Polizei bekommt Nadia ihn wieder. Auf Rat ihrer Eltern flieht sie vor seiner Rachsucht nach Afghanis­tan. Schnell findet ihr Ex-Mann heraus, wo sie wohnt, schickt Familienangehörige, sie sollen seine Ehre retten, ihr Säure ins Gesicht spritzen, den Sohn holen. Als Nadia Hilfe bei der afghanischen Polizei sucht, hört sie, dass man dort Wichtigeres zu tun habe. Über den Iran flieht sie schließlich mit dem jüngeren Sohn nach Deutschland.

Ob Nadia die ganze Wahrheit erzählt, lässt sich nicht überprüfen. Auch nicht von einem Entscheider des BAMF. Der bewertet lediglich, ob ihre Geschichte plausibel klingt, ob sie nach Asylrecht schutzbedürftig ist und ob ihr bei einer Abschiebung Gefahr für Leib und Leben droht. Die Antworten des BAMF lauten Ja, Nein, Nein.

In der Version des BAMF ist die Chronologie eine andere. Laut Asylbescheid war Nadia bis 2012 in Afghanistan, ihr jüngerer Sohn wurde dort entführt und von der Polizei zurückgeholt. „Dieser Vorfall zeigt, dass im Herkunftsland Schutzakteure vorhanden und diese auch bereit sind, Schutz zu leisten“, steht im Asylbescheid. Es ist nicht die einzige Abweichung von Nadias Version. Wie kann das sein?

Nadia erzählt von der Anhörung. Sie dachte: „Wenn ich meine Geschichte möglichst genau erzähle, dann darf ich in Deutschland bleiben.“ So haben es ihr alle geraten. Sie redet drei Stunden lang, bricht mehrfach in Tränen aus. Der Übersetzer sagt: „Halten Sie sich kurz.“ Was Nadia in fünf, sechs Minuten erzählt, ist oft in weniger als einer Minute übersetzt. Zum Schluss geht der Übersetzer mit ihr das Protokoll durch, im Schnelldurchlauf. „Das stimmt schon alles“, sagt er. Nadia unterschreibt.

„Dolmetscher werden schlecht bezahlt"

Matthias Lehnert überrascht das alles nicht. Er ist Asylrechtsanwalt und vertritt Nadia bei ihrer Klage gegen die Entscheidung. „Dolmetscher beim BAMF werden schlecht bezahlt und müssen keine Zertifikate vorlegen. Es kommt oft zu Fehlern bei den Übersetzungen“, sagt er. Das BAMF sagt: Nachweise über eine Übersetzerausbildung sind nicht zwingend erforderlich. Wer bei einer Asylanhörung dolmetscht, bekommt weniger als die Hälfte des Stundensatzes bei Gericht. Aber: Vor der Anhörung frage man, ob sich Asylbewerber und Übersetzer verstünden. Nach der Anhörung könnten Fehler im Protokoll berichtigt werden.

Nadia sagt, dazu habe man ihr keine Zeit gelassen. Erst als sie mit einer Freundin am Abend nach der Anhörung über das Protokoll liest, fallen ihr die Abweichungen auf. Sie schreibt eine Richtigstellung an das BAMF. Vergebens.

Seit fünf Monaten wartet Nadia jetzt wieder. Ihr neues Leben versucht sie nun beim Verwaltungsgericht einzuklagen. Wieder dieser Schwebezustand zwischen Hoffen und Angst. Nadia macht ein Praktikum im Asylbewerberheim, Deutschkurse, besteht die B1-Sprachprüfung. Weiter kann sie das Jobcenter nicht unterstützen, nicht mit einem negativen Asylbescheid. Sie will eine Ausbildung machen, in der Apotheke, beim Optiker, irgendwo. Nicht mit negativem Asylbescheid. Sie will ihrem Sohn eine Zukunft in Deutschland bieten, nicht mit negativem Asylbescheid.

Eigentlich hat Nadia Glück: Ihr Antrag wurde in Berlin abgelehnt. Bei Abschiebungen hat hier der Innensenator das letzte Wort, und die neue rot-rot-grüne Regierung hat im Koalitionsvertrag festgelegt: Es wird keine Abschiebungen geben, die aus humanitären Gründen nicht tragbar sind. Allerdings wurde der Vertrag vor dem Anschlag auf den Breitscheidplatz unterschrieben, bevor die Rufe nach einer konsequenten Abschiebepolitik lauter wurden. Innensenator Andreas Geisel (SPD) ist angehalten, Bundesrecht anzuwenden. Und im Bund stehen die Vorzeichen für afghanische Flüchtlinge schlecht.

Abkommen erleichtert Abschiebungen aus der EU nach Afghanis­tan

Seit Herbst gibt es ein Abkommen, das Abschiebungen aus der EU nach Afghanis­tan erleichtert. Im Gegenzug zur „Kooperation in Migrationsfragen“ gibt es Entwicklungsgeld aus Berlin. Beim EU-Ministertreffen im November sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), er sei besorgt ob der hohen Zahlen an Flüchtlingen aus Afghanistan. „Wir wollen, dass in Afghanistan das Si­gnal ankommt: Bleibt dort!“ Wie solche Signale aussehen, zeigte die Bundesregierung erstmals im Dezember: 34 Afghanen wurden in einer Sammelabschiebung in ihre Heimat zurückgeschickt. Im Januar folgten weitere 26.

Auch Kava Spartak spürt die Signale. Sein afghanisches Kulturzentrum in Wedding wird dafür gefördert, Sprachkurse anzubieten, Frauentreffen zu organisieren. „Wir kommen kaum noch zu unserer eigentlichen Arbeit“, sagt Spartak. Der Grund: Seit Ende des Jahres sei die Zahl der Anhörungen bei Afghanen extrem angestiegen. Spartak und seine Kollegen sind fast nur noch damit beschäftigt, ihre Klienten auf Anhörungen beim BAMF vorzubereiten. Er sagt ihnen dann: „Rechnet damit, abgelehnt zu werden. Und klagt sofort.“

Aber geht das BAMF mit afghanischen Flüchtlingen tatsächlich härter ins Gericht? Ein Blick in die Asylgeschäftsstatistik der Behörde: Die sogenannte Gesamtschutzquote für Afghanen liegt leicht unter dem Durchschnitt für alle Antragsteller bei 55,8 Prozent. Zieht man die „sonstigen Verfahrenserledigungen“ ab, also Anträge, die das BAMF ohne Bearbeitung etwa an sichere Drittstaaten weiterleitet, dann ist die Schutzquote für Afghanen im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 17 Prozent gesunken. Und das, obwohl sich die Sicherheitslage in Afghanistan laut UN und Amnesty International massiv verschlechtert hat. Und Kritiker betonen: Dass das BAMF Afghanen öfter ablehne, geschehe auf politischen Wunsch. In Leitlinien werde angeraten, auf „interne Schutzmöglichkeiten“ im Heimatland zu verweisen. Wie in Nadias Asylbescheid.

Vom Ehemann verfolgt

Ein türkisches Teehaus in Berlin. Marmorierte Plastiktische, lautes Stimmengewirr. Nadia nippt am geschwungenen Teeglas, erzählt von der Verfolgung durch ihren Mann. Bei zu laut gestellten Nachfragen, blickt sie sich hastig um, flüstert. Wenn man sie fragt, was wohl passiert, wenn sie nach Afghanistan zurückkehrt, dann erzählt Nadia von einem Youtube-Video. Ein Lynchmob drischt darin mit Füßen und Holzbrettern auf eine blutüberströmte Studentin ein. Die Frau heißt Farchunda und wurde zum Symbol für Gewalt gegen „verwestlichte“ Frauen in Afghanistan. Die Polizei schaut dabei zu, wie der Mob Farchunda schließlich von einem Dach stößt, mit einem Auto überfährt, ihren Körper anzündet.

Für Asylrechtsanwalt Matthias Leh­nert ist klar: Für Frauen wie Nadia gibt es in Afghanistan kein menschenwürdiges Leben. In seiner Klage verweist er auf Einschätzungen des Auswärtigen Amtes und des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Die empfehlen dringend, Frauen, die gegen den vermeintlichen Sittenkodex verstoßen, Schutz zu gewähren. Interne Schutzakteure, auf die sich das BAMF in seiner Begründung beruft, gäbe es zwar auf Papier, jedoch nur selten in der Realität. „Bei geschlechtsspezifischer Verfolgung sind die Entscheider im Bundesamt nicht besonders sensibel“, sagt Anwalt Lehnert.

Ende Januar, sechs Monate nachdem Nadias Asylantrag abgelehnt wurde, lädt ihr Anwalt sie zu einem Gespräch in die Kanzlei. In einer Mail hat er ihr erklärt, worum es geht. Nadia ist sich nicht sicher, ob sie verstanden hat. An einem runden Holztisch, in einem Raum, in dem es außer Aktenstapeln nicht mehr als weiße Wände gibt, erfährt sie vom Angebot des BAMF. Abschiebestopp gegen Einstellung der Klage. Nadia muss nicht lange überlegen und kann ihre Tränen nicht lange zurückhalten. Die nächsten Schritte? Aufenthaltsgenehmigung. Vielleicht bekommt sie die für ein, zwei, vielleicht sogar für drei Jahre. Das neue Leben kann beginnen. Auf Zeit zumindest.

Das Bundesinnenministerium zu Abschiebungen nach Afghanistan:

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