Reinhard Gehlen ist einer jener schillernden Gestalten der deutschen Zeitgeschichte, über die ein abschließendes Urteil noch aussteht. Bisherige Aussagen über ihn greifen gern zum undifferenzierten Superlativ. Edward Spiro, einst britischer Geheimdienstoffizier, nannte ihn bereits 1971 den „Spion des Jahrhunderts“. Andere wie der amerikanische Historiker Gerhard Weinberg verliehen ihm das Prädikat, der größte Versager auf dem Gebiet der Geheimdienste gewesen zu sein.
Wo so apodiktische Rede herrscht, sind meistens große Gefühle im Spiel. Gehlen polarisierte schon zu Lebzeiten – und er tut es heute noch, 37 Jahre nach seinem Tod am 8. Juni 1979.
>> Wie der Bundesnachrichtendienst die NS-Gespenster vertreibt <<
Bei allem Dissens wird niemand bestreiten, dass der Mann, der den ersten Nachrichtendienst der Nachkriegszeit aufbaute, mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten ausgestattet war – sowohl im fachlichen Bereich wie auch auf dem Gelände der politischen Intrige.
Gehlen, 1902 als Sohn einer bürgerlichen Familie in Erfurt geboren, machte im Militär schnell Karriere, die ihn im Krieg zum 1. Adjutanten des Generalstabschefs Franz Halder werden ließ. Zuvor hatte er am Angriffskrieg auf Polen teilgenommen, später half er bei den strategischen Vorbereitungen des Überfalls auf die Sowjetunion („Unternehmen Barbarossa“).
Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes
Für seinen Nachkriegswerdegang entscheidend war jedoch der Posten, den er ab Mai 1942 bekleidete. Als Chef der Abteilung „Fremde Heere Ost“ war er für die Auskundschaftung und Prognose der sowjetischen Truppenbewegungen zuständig – mit einem Wort: Ostspionage.
Seine Expertise machte ihn nach dem Ende des Krieges für die Amerikaner zu einer sehr interessanten Figur. Über seine Kriegsgefangenschaft bei der US Army Air Force gibt es nur lückenhafte Erkenntnisse. Gesichert ist, dass im Juli 1946 die zunächst von Amerikanern finanzierte „Organisation Gehlen“ gegründet wurde, die zum Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes werden sollte.
Vereinbart war eine rein deutsche Führung des Dienstes, der allerdings eng mit den Amerikanern im Kampf gegen den Kommunismus kooperieren sollte. Der Dienst residierte seit Ende 1947 in der ehemaligen „Reichssiedlung Rudolf Hess“ in Pullach bei München.
Gehlen, der mit grauen Mänteln, seinen Hüten und dunkel getönten Hornbrillen eine Art Uniform der Spionage trug, war ihr Zentrum – wie auch seine Kollegen Gerhard Wessel (Auswertung) und Hermann Baun (Agentennetz), die schon bei den „Fremden Heeren Ost“ eng mit ihm zusammengearbeitet hatten und sich nun gern in Kompetenzstreitigkeiten und Intrigen übten.
Wissenschaftlich fundierte Biografie Gehlens fehlt bis heute
Waren hier schon personelle Kontinuitäten zum Nationalsozialismus vorhanden, so wurden sie auch durch die Anwerbung von Agenten mit NS-Vergangenheit sichtbar: Am bekanntesten von ihnen sicherlich Heinz Felfe, der einst als Obersturmführer der SS die Gestapo auf Sorben gehetzt hatte und dann die „Organisation Gehlen“ mit wichtigen Informationen versorgte – um dann freilich als sowjetischer Agent enttarnt zu werden.
Von sich reden machte auch Gehlens berüchtigte Kartei, in der er Dossiers über hochrangige Politiker wie Konrad Adenauer oder Franz Josef Strauß führte, die auch – Gerüchten zufolge – sexuelle Gewohnheiten nicht aussparten. Die Kartei wurde von Gehlens Nachfolger vernichtet und ist nur noch mittelbar zu rekonstruieren.
Eine wissenschaftlich fundierte Biografie Gehlens fehlt bis heute. Der Historiker Rolf-Dieter Müller hat sich im Rahmen seiner Arbeit für die Unabhängige Historikerkommission daran gewagt. Sie wird hoffentlich ein klareres Bild zeichnen dieser bis heute nebulösen Figur.