Berlin. Der Junge galt als hochintelligent, aber stinkfaul. Jedes Diktat endete mit einer sechs, die Mutter schimpfte, die Lehrer waren sauer. Doch es war nicht Faulheit. Er konnte es einfach nicht, er schrieb ja auch keine Liebesbriefe – aus Angst davor, zu viele Fehler zu machen. Und irgendwann schrieb er gar nicht mehr, weil er die Nase voll vom Fehlermachen hatte.
Heute ist Bodo Ramelow Ministerpräsident von Thüringen und einer der wenigen, die offen mit ihrer Rechtschreibschwäche umgehen. „Es war erlösend, als ich wusste, es ist Legasthenie“, sagt der 60-Jährige heute. „Es ist bitter, wenn man Legastheniker ist, dies aber nicht weiß und man das lange Zeit als Dummheit ausgelegt bekommt.“
Jedes zehnte Kind in Deutschland leidet unter Legasthenie oder Dyskalkulie: Sie haben kognitive Probleme damit, im gleichen Tempo wie ihre Mitschüler lesen, schreiben und rechnen zu lernen. „Die Buchstaben kullern durch meinen Kopf“, beschreibt Ramelow das Gefühl. Umlaute, Dehnlaute, Doppellaute sind jedes Mal hohe Hürden.
Der Linke-Politiker hat sich wie viele Leidensgenossen im Laufe des Lebens Techniken angewöhnt, um mit der Schwäche umzugehen. „Ich stelle mir jedes Wort im Kopf als Ganzes vor und schreibe es dann quasi ab.“ Als Politiker profitiert er nun davon: Redemanuskripte brauche er nicht, er habe den Text komplett vor Augen. Andere dagegen flüchten sich in Vermeidungsmuster, verbergen ihre Schwäche, entwickeln sogar Angststörungen oder Depressionen.
„Ich weiß, was wir Kindern antun, wenn Legasthenie nicht erkannt wird“, sagt Ramelow. Nicht nur als Politiker, sondern vor allem als Betroffener unterstützt er die Forderung der Fachleute nach möglichst frühzeitigen Diagnosen: Am kommenden Freitag rufen die Deutsche Kinderhilfe und der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie zum ersten bundesweiten Aktionstag auf.
Diagnose von Legasthenie dauert oft mehr als zwei Jahre
Die Verbände fordern mehr Aufmerksamkeit und eine bessere Förderung für Kinder mit Lernstörungen. Schon in der Lehrerausbildung müssten künftige Pädagogen lernen, wie man Legastheniker und Kinder mit Dyskalkulie erkennt. In jeder Schule müsste es zudem Fortbildungen für sämtliche Lehrer geben – um die betroffenen Kinder gezielt fördern zu können und nicht als lernschwach abzustempeln. Bislang ist es den Lehrern weitgehend freigestellt, sich darin weiterzubilden.
Kinder, deren Legasthenie oder Dyskalkulie zu spät erkannt werden, hätten häufig mit psychosomatischen Folgeerkrankungen zu kämpfen, warnte der Berliner Kinder- und Jugendpsychiater Michael von Aster. Dazu gehörten Angststörungen, Depressionen oder Störungen im Sozialverhalten. „Frühes Erkennen und eine gute Förderung und Begleitung hilft dagegen, ein chronisches Schulscheitern zu verhindern“, betonte er.
Eltern berichten, dass es nach wie vor mehr als zwei Jahre dauern kann, bis sie eine klare Diagnose bekommen – und damit Anspruch auf Hilfe. Für viele Kinder ist die Zeit bis dahin eine Tortur, sie werden traurig, wütend, verzweifelt: „Gesunde Kinder dürfen nicht psychisch krank werden, weil ihre Legasthenie oder Dyskalkulie nicht erkannt werden“, sagt Rainer Becker von der Deutschen Kinderhilfe. Auch volkswirtschaftlich könne sich das Land nicht leisten, auf diese Kinder zu verzichten.
Kritik übt der Bundesverband auch am uneinheitlichen Vorgehen in den Ländern. So gebe es in sieben Bundesländern bislang keine Regelung zur speziellen Förderung von Schülern mit Dyskalkulie. Alle betroffenen Schüler müssten zudem ein Recht auf Nachteilsausgleich und Notenschutz bis zum Schulabschluss haben. Mit dem Nachteilsausgleich können Prüfungen so gestaltet werden, dass etwa Legastheniker Prüfungsfragen vorgelesen bekommen. Die Kinder können auf diese Weise trotz ihrer Beeinträchtigung gute Leistungen erbringen.