Fiktive „Vermisst“-Plakate sollen für die Hotline der Beratungsstelle Radikalisierung werben. Islamverbände fordern ein Stopp der Kampagne.
„Das ist meine Freundin Fatima. Ich vermisse sie, denn ich erkenne sie nicht mehr. Sie zieht sich immer mehr zurück und wird jeden Tag radikaler. Ich habe Angst sie ganz zu verlieren – an religiöse Fanatiker und Terrorgruppen.“ Fiktive „Vermisst“-Plakate mit diesen Worten und einem Foto von „Fatima“, „Ahmad“, „Hassan“ oder „Tim“ sollen vom 21. September in Berlin, Bonn und Hamburg aufgehängt werden, insbesondere in Stadtteilen, in denen überwiegend Migranten wohnen. Diese Aktion des Bundesinnenministeriums soll für die Telefonnummer der Beratungsstelle Radikalisierung werben. Die Werbekampagne, die in Berlin in Kreuzberg, Neukölln und Wedding zu sehen sein wird, soll Menschen ansprechen, die sich um die religiöse Radikalisierung eines Angehörigen oder Bekannten sorgen.
Doch bislang riefen die Plakate hauptsächlich harte Kritik hervor. Die Leiterin der Bundes-Antidiskriminierungsstelle, Christine Lüders, zeigte sich „befremdet“ über die Aktion, die rund 300.000 Euro gekostet hat. Auch Muslime bemängeln das Projekt. Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, nennt die Aktion „eine Stigmatisierungskampagne gegen alle Menschen muslimischer Herkunft“. Familienmitglieder würden vorauseilend als Inspektoren gegen Radikalismus eingesetzt werden, die Kampagne schüre Vorurteile gegen die muslimische Bevölkerung.
Mareike Kutt, Sprecherin des Bundesinnenministeriums, weist die Vorwürfe zurück. „Wir können diese Anschuldigungen nicht nachvollziehen.“ Sinn und Zweck der Plakate sei, auf das Phänomen der Radikalisierung aufmerksam zu machen und die Bevölkerung aufzurütteln. „Die Kampagne emotionalisiert, da ist es normal, dass man jetzt so viel darüber diskutiert“, sagt sie. Das Angebot der Beratungsstelle sei bislang nicht in dem Maße angenommen worden, wie man es sich erhofft habe, daher habe man sich für diese Form der Werbung entschieden.
„Motive abgesprochen“
An der Entwicklung der Motive waren nach Angabe des Innenministeriums die muslimischen Verbände beteiligt, die im Rahmen der „Initiative Sicherheitspartnerschaft“ mit dem Ministerium zusammenarbeiten, um Islamismus und Radikalisierung gemeinsam zu bekämpfen. „Selbstverständlich haben wir die Motive mit den muslimischen Verbänden abgesprochen, diese wurden auch noch Anfang August für gut befunden“, sagt Kutt.
Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, der Verband der Islamischen Kulturzentren, der Zentralrat der Muslime und die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken, alle Partner der Initiative, geben hingegen an, die endgültigen Plakate nicht gesehen zu haben und im Entwicklungsprozess eher eine „Statistenrolle“ eingenommen zu haben. Bedenken seien nicht aufgegriffen worden, daher lasse man die Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium ruhen, bis es ein „verbindliches, fixiertes, Kooperations-, Ab- und Zustimmungsprozedere“ gebe. Die Verbände missbilligen die Plakate nicht nur, sie fordern sogar, sie zu stoppen. Stattdessen solle sich das Innenministerium „auf geeignete Instrumentarien“ besinnen, „die dem Wohl und Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft dienen“.
„Wir sind völlig überrascht von diesen Aussagen. Im einem längeren Diskussionsprozess mit den Verbänden haben wir die Motive entwickelt, sind auch auf Einwände eingegangen und haben uns mehrfach abgestimmt“, sagt Mareike Kutt vom Innenministerium. Daher werde man auch an der Aktion, die auf Deutsch, Türkisch und Arabisch verbreitet wird, wie geplant festhalten. So wird es außer Plakaten auch Anzeigen in Printmedien, auf Jugendseiten und in sozialen Netzwerken geben. „Wir sind aber weiterhin bereit, auch in Zukunft auf Einwände der Verbände einzugehen“, sagt Kutt.
„Ängste schüren“
Aydan Özoguz, Integrationsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion sagt, die Aktion würde „Ängste und Ressentiments schüren“, was Radikalisierungstendenzen eher verstärke. Auch Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, hält die Kampagne für nicht überzeugend. „Im besten Fall wird sie nutzlos sein, im schlimmsten Fall führt sie zu neuen Polarisierungen. Diese Kampagne stigmatisiert.“ Das weist Mareike Kutt vom Bundesinnenministerium zurück: „Neben den Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeigen wir mit dem Motiv Tim auch einen deutschen Konvertiten, um den Betrachter zu sensibilisieren.“ Radikalisierung sei ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Statisten, die für die Fotos Modell standen, wurden genau über die Kampagne und das geplante Motiv informiert. „Die vier wollten das Projekt gezielt unterstützen, wussten, was sie tun“, sagt Kutt.
Die Beratungsstelle Radikalisierung wurde im Januar 2012 im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingerichtet. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hatte beim Präventionsgipfel 2011 angekündigt, gemeinsam mit Muslimen einer Radikalisierung von Heranwachsenden durch islamistische Gruppierungen entgegenzutreten. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, sind Eltern, Angehörige und Freunde oft die ersten, denen eine Veränderung und mögliche Radikalisierung eines jungen Menschen auffällt – für diese Gruppe sei ein besonderes Beratungsangebot wichtig. Bisher gibt es Beratungsstellen in Berlin und Nordrhein-Westfalen, in Bremen ist eine geplant. Bei Bedarf werden junge Menschen in ganz Deutschland aufgesucht, um sie in Gesprächen zu entradikalisieren.