Jerzy Montag kann die Aufregung um Gaucks Worte zu Angela Merkel nicht verstehen. Am Mittwochnachmittag betritt er den Nebeneingang des Hotels „King David“ in Jerusalem. Eben erst nahm der grüne Bundestagsabgeordnete am Mittagessen mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu teil. Über eine Stunde länger als geplant speisten Gauck und Netanjahu samt ihrer Delegationen miteinander. Kritik an Gauck wurde hier nicht laut. „Joachim Gauck spricht mir aus dem Herzen“, sagt Jerzy Montag. „Er hat eine verwegene Formulierung eines Kanzlerinnenwortes sinnvoll und hilfreich differenziert.“
Der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe hebt hervor, Gauck nehme zu schwierigen Fragen Stellung. „Ich bin froh, dass er aus seinem Herzen keine Mördergrube macht.“ Eben erst, im Gespräch mit Netanjahu, habe Gauck klargemacht, dass der israelische Siedlungsbau die Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung erschwere.
Die Siedlungspolitik dominierte das Gespräch Gaucks mit Netanjahu, hieß es anschließend im Umfeld des Bundespräsidenten. Alle Anmerkungen aus Deutschland zu dieser Frage berührten nicht das freundschaftliche Verhältnis, sondern seien dessen Ausdruck, sagte Gauck. Deutschland stehe solidarisch an der Seite Israels. Das enge Zusammenstehen beider Länder könne man mit verschiedenen Worten beschreiben, ging Gauck auf Merkels Begriff von der „Staatsräson“ ein.
Mit dem Verweis auf gleiche Sichtweisen bei unterschiedlichen Begriffen versucht der Bundespräsident anscheinend, eine plötzlich aufgebrochene Debatte über Differenzen zwischen ihm und Angela Merkel zu ersticken. Auch in Berlin verneinten Kreise der Bundesregierung, dass es einen sachlichen Dissens mit dem Bundespräsidenten gebe. Daran freilich, dass alles nur ein Missverständnis gewesen sei, lässt sich zweifeln. Auch, wenn Gauck jetzt sagt: „Wer gemeint hat, zwischen der Bundeskanzlerin und mir Distanz herauszulesen, wäre das ein Irrtum.“ In der Sache, so Gauck, sei er „ganz dicht bei der Kanzlerin“.
Was war geschehen? Joachim Gauck hatte am Dienstagnachmittag gerade Überlebende des Anschlags auf die israelische Olympia-Mannschaft von 1972 getroffen, als er die Bundeskanzlerin rügte. Der Bundespräsident stand auf der unteren Terrasse des geschichtsträchtigen „King David“-Hotels in Jerusalem, umringt von Reportern, Fotografen und Kameraleuten. Sein Sprecher hatte zum „O-Ton“ gebeten. Am ersten offiziellen Tag seines Staatsbesuchs in Israel sollten die Medien einige sendefähige Zitate erhalten. Gauck also sprach über seine Zweifel an Angela Merkels Position zu Israel nicht etwa im „Hintergrund“, wie vertrauliche Unterredungen zwischen Politikern und Journalisten genannt werden. Der höchste Mann im Staate bekundete vielmehr vor laufender Kamera, frei zum Zitieren also, seine Bedenken gegen Merkels Satz aus dem Jahr 2008, Israels Sicherheit sei Teil deutscher Staatsräson.
Bereits zuvor, am Dienstagvormittag, hatte Gauck während seines Empfangs mit militärischen Ehren im Park des israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres eine abweichende Haltung angedeutet. Der Bundespräsident hatte dort gesagt: „Das Eintreten für die Sicherheit und das Existenzrecht Israels ist für die deutsche Politik bestimmend; Israel soll in Frieden und in gesicherten Grenzen leben.“ Gaucks Begriff „bestimmend“ war eine erkennbare Distanzierung von der Haltung Bundeskanzlerin Merkels. Sie hatte während einer Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, im Jahre 2008 ausgeführt: „Gerade an dieser Stelle sage ich ausdrücklich: Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“
Gauck stritt sie nicht ab
„Bestimmend“ versus „Staatsräson“? Am Dienstagnachmittag, anlässlich jenes „O-Ton“-Termins, bestand Gelegenheit, bei Gauck nachzufragen. Ein Reporter erkundigte sich da nach diesen Differenzen. Gauck stritt sie nicht ab. Er erinnerte zunächst daran, wie schwer es sei, die Öffentlichkeit für Auslandseinsätze zu gewinnen. Als Beispiel nannte Gauck das militärische Engagement der Bundeswehr in Afghanistan. Er indes wolle sich „nicht jedes Szenario vorstellen“ – das dürfte sich bezogen haben auf einen Krieg Israels, etwa mit dem Iran. Das „Staatsräson“-Wort könne die Kanzlerin noch in „enorme Schwierigkeiten“ bringen, prognostizierte der Präsident – eine ziemlich ungewöhnliche Einlassung eines deutschen Verfassungsorgans über ein anderes deutsches Verfassungsorgan, zumal im Ausland. „Ich will nicht in Kriegsszenarien denken“, fügte Gauck noch hinzu. Dann indes konstatierte er: „Deutschland sollte das allerletzte Land sein, das Israel seine Solidarität und Freundschaft aufkündigt.“
Mehrfach äußerte Gauck am Dienstag, er stehe voll hinter der Politik der Bundesregierung. Das bezog sich auf deren Plädoyer für eine Zwei-Staaten-Lösung. Bereits während des Fluges am Montag von Berlin nach Tel Aviv hatte er gesagt, er sehe keinen Konflikt mit der eigenen Regierung. Seine kritische Positionierung zu Merkels Wort von der „Staatsräson“ ließ er hier aber bereits deutlich durchblicken. Er neige dazu, Merkels Satz ernst zu nehmen, sagte Gauck – und nannte dann deren Grundaussage ein „sehr gewagtes Wort“. Gauck argumentierte, nicht alles, was man moralisch als richtig erachte, gelinge es politisch zu gestalten. Im Umfeld des Bundespräsidenten heißt es, Gauck habe sich seine Worte gut überlegt, sie seien mitnichten zufällig gewählt oder gar nur daher gesagt.
Ähnliches freilich konnte man am Mittwoch mit Bezug auf die Äußerung Merkels von 2008 aus dem Umkreis des Kanzleramtes heraushören. Auch der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Philipp Mißfelder, nahm die Bundeskanzlerin gegen Kritik an ihrer Aussage zur Sicherheit Israels in Schutz. Er sagte der „Leipziger Volkszeitung“: „Israel ist Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Deshalb bleibt die Aussage unserer Bundeskanzlerin zur Staatsräson richtig.“ Der Vorsitzende der deutsch-israelischen Gesellschaft, der SPD-Politiker Reinhold Robbe, sagte hingegen der Zeitung: „Der Bundespräsident scheint sich Gedanken über die Schlussfolgerungen aus einer solchen Feststellung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu machen, die diese im Übrigen von sich heraus und nicht als Ergebnis einer Meinungsbildung des Parlamentes getan hat.“ Ganz sicher habe der Bundespräsident damit die Bundeskanzlerin nicht brüskiert, „sondern er hat die Debatte über die Schlussfolgerung befördert“. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, sagte der Morgenpost in Jerusalem: „Bundespräsident Gauck vertritt unser Land glänzend. Ich bin stolz auf Bundespräsident Gauck.“ Er sehe „keinen Unterschied zwischen der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten. Wir sollten hier keine Unterschiede konstruieren.“ Die Botschaft Gaucks sei „glasklar“ gewesen. Und: „Der Bundespräsident hat die besondere Freundschaft nach unserer Geschichte hervorgehoben. Er hat klar gemacht, dass von allen Ländern Deutschland als letztes Israel seine Freundschaft aufkündigen darf.“ Gauck habe für das deutsch-israelische Verhältnis „wunderbare Worte“ gefunden.
Lob für die Wissenschaft
Vor seinem Treffen mit Netanjahu besuchte Gauck das Weizmann-Institut in Rehovot und sprach dort vor jungen deutschen und israelischen Forschern. Auch bei diesem Termin machte der Bundespräsident aus seinem „Herzen keine Mördergrube“ – und warnte in seiner Rede davor, die deutsch-israelischen Beziehungen auf eine „Kultur der Betroffenheit“ zu beschränken. Gauck betonte, dass es zwischen beiden Ländern über die notwendige Vergangenheitsbewältigung hinaus „längst eine Tradition gibt, Gegenwart und Zukunft zu gestalten“.
Das Weizmann-Institut gilt als einer der wichtigsten Partner in der deutsch-israelischen Wissenschaftszusammenarbeit. Gauck hob diese Zusammenarbeit hervor, und lobte gleichzeitig das Wesen der Wissenschaft. Die Politik glaube zu wenig an Aufklärung und Vernunft, sagte Gauck. Indirekt auf die Lage im Nahen Osten und den in einer Sackgasse steckenden Friedensprozess bezogen sagte er, in der Politik sei die Aufklärung manchmal „wie eine Schnecke, irgendwie versteinert“. Die Wissenschaft, so Gauck, zeige dagegen, dass Fortschritt möglich sei.