Der mutmaßliche Doppelattentäter von Oslo und Utoya war ein Verfechter der nationalistischen Ideologie. Er fühle sich bedroht, war von der evangelischen Kirche enttäuscht und wetterte in rechten Foren gegen den Islam und den Kommunismus.

Was im Kopf eines Massenmörders vorgeht, wann die Sicherungen durchbrennen und warum, das ist selbst für Psychologen schwer nachvollziehbar. Denn „zwischen den Gedanken und die Tat fällt der Schatten“, wie es der Dichter T.S. Eliot formulierte. Die meisten von uns durchschreiten diese Schattenzone nie. Anders Behring B. hat es getan.

War der 32-jährige also ein Psychopath? Einsam war er wohl, ein Sonderling, obwohl er blendend aussah und offensichtlich geschäftliches, organisatorisches und – man muss es wohl so sagen – militärisches Geschick besaß. Zunehmend scheinen die hasserfüllten Gedanken, die er selbst in die Welt setzte, übermächtig geworden zu sein.

Der Anschlag gewinnt eine makabre Logik

Morgenpost Online hat die Internet-Einträge des mutmaßlichen Attentäters von Oslo und Utoya ausgewertet, um sich ein Bild von seiner Gedankenwelt zu machen. In seinen Schriften offenbart Anders B. ein geschlossenes Weltbild, in dem der Islam Europa bedroht und die Linke, der Multikulturalismus und die politische Korrektheit den Kampf gegen diese Gefahr behindern. So gewinnt der Anschlag gegen Norwegens sozialdemokratischen Regierungschef und die Jugendorganisation seiner Partei eine makabre Logik.

Will man – bei aller Vorsicht – Vergleiche ziehen, ähnelt seine Tat weniger dem Amoklauf von Erfurt oder Winnenden und eher dem Anschlag des amerikanischen Rechtsextremisten Timothy McVeigh in Oklahoma City – oder den Terrorakten der Islamisten.

"Stiller und bescheidener Mann"

Zwischen dem September 2009 und Oktober 2010 hinterließ B. auf der rechtspopulistischen Internet-Plattform „document.no“ zahlreiche Kommentare und Diskussionsbeiträge Er habe studiert, ein Unternehmen gegründet und Millionen verdient, erzählte B. über sich. Das Geld nutze er, um ein „politisch aktives Leben finanzieren zu können“, und um konservative Organisationen und deren politische Ideologie zu fördern.

Er sah sich als Teil einer europaweiten Bewegung: „Es gibt große politische Umwälzungen in Westeuropa“, schrieb er. „Die kulturelle konservative Bewegung wächst im Rekordtempo, und es gibt einen Konsolidierungsprozess in allen westeuropäischen Ländern. Jeder kann beitragen und jeder Beitrag zählt.“

B. war bis vor einigen Jahren aktiv in Norwegens FrP, der rechtsliberalen Fortschrittspartei. Als „stillen und bescheidenen Mann“ beschreibt Ove A. Vanebo, derzeitiger Chef der Jugendorganisation der FrP, das ehemalige Parteimitglied. Die FrP entstand in den 70er-Jahren aus einer Protestbewegung gegen das Steuersystem und vertritt wie ähnliche Parteien in Europa eine Begrenzung der Zuwanderung, die Stärkung der Rechte des Einzelnen, den Abbau staatlicher Sozialprogramme und die Privatisierung staatlicher Unternehmen.

Der Multikulturalismus und „marxistische“ – also linke – Politiker hätten die norwegische Kultur unterwandert, so B. Ähnlich lautet die Rhetorik der Fortschrittspartei. So warfen die führenden Parteimitglieder Kent Andersen und Christian Tybringe Gjedde vor einem Jahr in einem Gastkommentar für die Tageszeitung „Aftenposten“ der regierenden Arbeiterpartei einen „Dolchstoß in den Rücken“ der norwegischen Kultur vor. „Es ist die Arbeiterpartei, die uns jedes Jahr Tausende von neuen Norwegern von unterschiedlichen Kulturen und Unkulturen gibt.“

Für B. wird Europas Identität vom Islam bedroht. „Defeating Eurabia“ (wie man Eurabien besiegt), ein anti-muslimisches Pamphlet des Bloggers „Fjordman“, sei das „perfekte Weihnachtsgeschenk für die Familie und Freunde“, so B.. „Eurabien“ ist in rechtsradikalen Kreisen ein Codewort für ein mit Unterstützung der Europäischen Union – etwa des „Kommunisten Barroso“ – islamisiertes Europa.

Muslimischen Migrantenkindern werde beigebracht, Stolz auf ihre Religion und Kultur und ihre konservativen Werte zu sein, „während norwegische Männer feminisiert werden und übermäßige Toleranz lernen“. Der Schulunterricht für norwegische Kinder bestehe nur noch aus der „Dämonisierung unserer Vorfahren (böse Imperialisten, Großbauern, die Mägde vergewaltigten, blutrünstige Kreuzritter, die friedliche Muslime überfallen)“. Norwegen drohe das gleiche Schicksal wie dem Libanon. Dort seien die Christen nun in der Minderheit und würden unterdrückt.

„Nennen Sie mir ein Land, wo Muslime friedlich mit Nicht-Muslimen leben, ohne dass sie den Dschihad gegen die Ungläubigen führen“, schrieb der spätere Massenmörder und erging sich in Fantasien eines bevorstehenden muslimischen Blutbads: Mehrere Hundert norwegische Kinder hätten vermutlich bereits Selbstmord begangen, weil sie von muslimischen Jugendlichen misshandelt, ausgeraubt und vergewaltigt wurden. „Wie viele Tausende junger Europäer müssen sterben, wie viele Hunderttausend europäische Frauen vergewaltigt und Millionen ausgeraubt werden, bevor Sie verstehen, dass Multikulturalismus + Islam nicht funktioniert?“

Er sah sich von Feinden umstellt

Möglicherweise fantasierte sich B. auf diese Weise in die Rolle des einsamen Rächers potenzieller Opfer des Islam und des allzu laschen „Multikulturalismus“ hinein. Seine Tat wäre ein Fanal gegen die Linke und zugleich eine Demonstration dessen, was den „Tausenden und Hunderttausenden“ bevorstehe, wenn sie sich nicht gegen den Islam wehrten.

B. bezeichnete sich selbst als „Protestant und nach freiem Willen getauft“. Aber „die heutige evangelische Kirche ist ein Witz.“ Priester in Jeans marschierten für Palästina. Er befürworte eine Rückbesinnung der Protestanten auf ihre Grundlagen, ja die Rückkehr zur katholischen Kirche. Die Norweger müssten lernen, wieder christlich und national zu denken. Der entscheidende Kampf sei nicht mehr Kapitalismus gegen Kommunismus, sondern Internationalismus gegen Nationalismus.

Diejenigen, die wie er die Gefahr des Islam und des Internationalismus erkannten, sah Anders B. von Feinden umstellt. „100 Prozent des nationalen Medien-Unternehmen unterstützen nun den Multikulturalismus mit vollem Herzen, 98 Prozent aller norwegischen Journalisten sind nun kulturelle Marxisten / Multikulturalisten / ‚politisch korrekt' oder sympathisieren mit ihnen.“

Tat offenbar von langer Hand vorbereitet

Norwegen und Schweden gehörten zu den weltweit repressivsten Regimes in Sachen Meinungsfreiheit. Es gebe eine Pressezensur, „wenn es um eine kritische Sicht der Islamisierung und Multikulturalismus geht“. Die konservative Politik werde „terrorisiert“. Deshalb müsste man „gemeinsam am Aufbau einer großen konservativen Tageszeitung arbeiten.“ Besonders wichtig sei es, die Jugend zu erreichen. Das tat er dann auf seine Weise auf der Insel Utoya.

Wann B. den Gedanken an die Schaffung einer christlich-nationalen Gegenöffentlichkeit und Gegenkultur aufgab und sich zur Propaganda der Tat entschied, ist noch unklar. Doch war die Tat offenbar von langer Hand vorbereitet. „Der größte Fehler, den meisten Menschen machen“, schrieb er, „ist dass sie davon ausgehen, dass ‚jemand anders', die Anstrengungen für sie machen wird.“

Anders B. wurde also selbst dieser „jemand anders“. Auf Twitter setzte er vor einigen Tagen eine Botschaft ab, der zufolge ein Mensch mit wahren Überzeugungen über dieselbe Macht verfüge wie 100.000, die nur ihre Interessen vertreten. Ein Zitat des liberalen englischen Philosophen John Stuart Mill, einen Befürworter des gewaltlosen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Anders B. deutete ihn um: als Selbstermächtigung zum Massenmord an Wehrlosen.