Es ist ein ruhiger Morgen am Amtsgericht Bernau in Brandenburg. Jugendrichter Andreas Müller sitzt schon auf der Richterbank, weißes Oberhemd, weiße Krawatte, Strickjacke, die schwarze Robe hängt noch über dem Nebenstuhl. Heute finden „nur“ sechs Verfahren statt. Am Tisch links vor der Richterbank nimmt ein Vertreter der Staatsanwaltschaft Platz, daneben ein Jugendgerichtshelfer, sozusagen das pädagogische Gewissen des Verfahrens. Im Zuschauerraum sitzen fünf Sozialarbeiter, die bald als Familienhelfer eingesetzt werden sollen. Für ihren Job müssen sie wissen, wie Jugendstrafverfahren ablaufen, konsequent und schnell. Zumindest wenn Müller den Vorsitz hat. „Bei mir herrscht ein hartes Regiment im Saal“, sagt er. 15Minuten, oft bleibt nicht mehr Zeit, um ein Urteil zu sprechen und das Möglichste zu tun, um die straffälligen Jugendlichen zu erziehen, wie es laut Jugendgerichtsgesetz die Aufgabe eines Richters ist.
Der erste Angeklagte wird vergeblich aufgerufen. Er ist bereits mehrfach auffällig geworden, die Mutter verwahrlost, in der Nacht ist er aus dem Heim geflohen, vier Monate zuvor hat er in der S-Bahn den Nothammer geklaut und eine Schlägerei begonnen. Müller verkündet einen Haftbefehl. Die zweite Angeklagte hat ein Nintendo per Ebay versteigert, 107 Euro eingenommen und das Gerät niemals abgeschickt. Nancy* ist 21 Jahre und hat vor drei Wochen ein Kind bekommen. Sie trägt eine Tigerbluse, erzählt von den Eltern, die sich haben scheiden lassen, als sie vier Jahre alt war, nach der neunten Klasse ging sie von der Schule ab und lebt jetzt von Hartz IV. Müller verurteilt sie, das Geld zurückzuzahlen. Nancy sagt „Tschüssi“, als sie den Saal verlässt.
Beim nächsten Verfahren wird Müller wütend. Der 20 Jahre alte Angeklagte ist ein alter Bekannter. Körperverletzung, unerlaubter Besitz von Rauschmittel, Verstoß gegen das Waffengesetz, er hat schon einiges auf dem Kerbholz. Von den 70 Arbeitsstunden, zu denen Müller ihn bereits in einem vorherigen Verfahren verpflichtete, hat Henri nur zehn geleistet. Er ist arbeitslos, soll Anfang des Jahres zur Bundeswehr. „Der Knast ist beim Bund am härtesten, da kriegen Sie eine Bibel, einen Stuhl und sonst nichts!“ Müllers Worte treffen wie spitze Pfeile. Er droht mit Beugearrest. Henri bekommt noch eine letzte Chance, innerhalb von zwei Wochen die restlichen Arbeitsstunden abzuleisten.
„So“, sagt Andreas Müller wenig später beim Italiener gegenüber, „heute ging es ja. Manchmal habe ich fünfzehn Verfahren an einem Tag. Dann kommen Sie aus dem Gerichtssaal und wissen nicht mehr, ob Sie Huhn sind oder Hahn.“ Müller ist seit 1997 beim Amtsgericht Bernau. Als er das erste Mal einen Jugendlichen für zwei Jahre ins Gefängnis brachte, hat er geheult. Der Angeklagte hat ihn später zu seiner Hochzeit eingeladen. Aus Dankbarkeit, so erzählt es Müller, weil die Strafe die Wende in seinem Leben gewesen sei und ihn vor Schlimmerem bewahrt habe.
Zwei Biertrinker unter Teetrinkern
Müller ist bekannt für seine Härte. Er verurteilte mehr als 100 Neonazis, teilweise zu mehrjähriger Haft ohne Bewährung. Jugendliche Skinheads ließ er in Handschellen aus dem Gerichtssaal abführen. Er verbot das Tragen von Springerstiefeln vor Gericht und auf der Straße. Monatelang tourte die Polizei durch Bernau und zog den Leuten die Schuhe aus. Einen NPD-Funktionär, der als Zeuge geladen war, stellte er vor die Alternative: Entweder er geht in die Stadt und holt sich andere Schuhe, oder er kommt auf Socken in den Gerichtssaal. Nach einer Dreiviertelstunde Bedenkzeit kam er auf Socken.
„Bei so was muss man sofort knallhart reinhauen, sonst setzt man das Signal: Es passiert schon nichts“, sagt Müller. Die Urteile schockten die rechtsradikale Szene. In den 90er-Jahren war die brandenburgische Kleinstadt eine Hochburg der Neonazis. Ausländer, Linke und Schwule konnten sich hier nicht angstfrei bewegen. Seit mehreren Jahren nun wurde in der brandenburgischen Kleinstadt kein einziges Verbrechen mit rechtsextremem Hintergrund mehr verübt. Neonazis sahen mit der geballten Faust in der Tasche zu, wie ihre Kumpels in den Knast wanderten.
Trotzdem ist Müller frustriert. Seit zehn Jahren kämpft er für beschleunigte Jugendverfahren, für eine Strafe, die schnell nach der Tat erfolgt, damit sie wirken kann. In Talkshows tritt er auf, stellt sich Politikern. „Mehrmals habe ich gesagt, es reicht – jetzt gehe ich selbst in die Politik, um wirklich etwas zu verändern.“ Einmal hat er es getan und 2002 für die PDS kandidiert. Müller aber kehrte rasch an die Richterbank zurück. Die Unterstützung der Partei ließ zu wünschen übrig.
Müller war ein guter Freund der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig, die sich im vergangenen Sommer das Leben nahm. Vor vielen Jahren hatten sie sich bei einer Fortbildung kennengelernt. „Alle tranken Tee, Kirsten und ich sahen uns, jeder von uns mit einem Bier in der Hand“, erinnert sich Müller, „und uns war sofort klar, wir sind seelenverwandt.“ Auch Heisig war bekannt für ihre knallharten Urteile – und ihre Warnung, Deutschland werde den Kampf gegen Jugendgewalt verlieren, wenn nicht endlich konsequent gehandelt werde. In ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ bedankt sich Heisig bei Müller für seinen Rat und lobt ihn für seinen unerschrockenen Einsatz. Müller hat das Glück, die Political Correctness auf seiner Seite zu haben. Entschlossener Kampf gegen Rechtsextremismus ist parteiübergreifend erwünscht. Heisig jedoch hatte in Neukölln vor allem mit kriminellen Migranten zu tun. Sie kritisierte Kollegen und Jugendämter für ihren laxen Umgang mit auffälligen arabischen und türkischen Familien. Von ihren zahlreichen Kritikern sah sie sich oft in die ,rechte Ecke' gedrängt. „Dabei glaubten wir beide dasselbe, nämlich dass es nichts bringt, nur immer wieder das Köpfchen zu streicheln“, sagt Müller. „Nur hatten wir eine andere Klientel.“ Heisig sei ein sozialer Mensch gewesen, der im Sinne der Opfer dachte. „Wir müssen deshalb gegen arabische kriminelle Clans genauso konsequent handeln wie gegen rechte Täter“, sagt er, „damit wir nicht wieder eine Ausländerfeindlichkeit bekommen wie vor 20 Jahren.“
500 bis 600 Jugendliche kommen im Schnitt jedes Jahr in Müllers Gerichtssaal. Die Gründe dafür haben sich geändert. Waren es Ende der 90er-Jahre viele rechtsradikale Straftaten, wird heute vor allem wegen Raubs verhandelt, das sogenannte „Abziehen“. Mit extrem brutaler körperlicher Gewalt werden andere Jugendliche gezwungen, Handys, Geld, teure Klamotten abzugeben. „Die gehen heute aus Spaß einfach auf andere los, das ist erschreckend“, sagt Müller. „Oft habe ich so kaputte Jugendliche, geistig so verwahrloste Menschen, dass ich mich frage: Was mach ich mit denen bloß? Wie kommt man an die noch heran?“
Auch aufgrund der wachsenden Brutalität habe sich in den vergangenen Jahren eine neue Generation von Richtern gebildet, die in Heisigs und Müllers Sinn denken. Sie versuchen, mit scharfen Signalurteilen in die kriminelle Szene hineinzuwirken. Richter, die an die Macht der Strafe glaubten, hätten mehr und mehr die Pädagogen abgelöst, die es im Nachklang der 68er-Generation vor allem mit Geduld und pädagogischen Maßnahmen versuchten, glaubt Müller.
Ein Anhänger der zweiten Gruppe ist Christian Pfeiffer, der Leiter des Kriminologischen Instituts Niedersachsen (KFN). Es gibt kaum einen Beitrag in deutschen Medien über Jugendkriminalität, der nicht Pfeiffers Meinung wiedergibt. Pfeiffer war der Einzige, der Heisig posthum kritisierte. Ihre Thesen zur eskalierenden Jugendgewalt und einer zunehmenden Brutalisierung seien haltlos.
Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik ist kompliziert – im Grunde kann sich jeder für seine These die entsprechenden Fakten suchen. Die Straftaten insgesamt haben im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr um ein Prozent abgenommen. Seit 1993 aber stieg die Gewaltkriminalität fast um ein Drittel, die Zahl leichter Köperverletzungen hat sich mehr als verdoppelt, die Zahl schwerer Körperverletzungen stieg um 70 Prozent. Mehr als ein Viertel der Täter bei Körperverletzungen sind Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Jeder vierte Polizist wird im Dienst geschlagen oder getreten. Die Taten fallen durch eine starke Brutalität auf.
Die Jugendkriminalität insgesamt aber ist seit zwei Jahren rückläufig, 2009 sank sie im Vergleich zum Vorjahr um fast neun Prozent. Pfeiffer führt das auf die Wirkung vieler pädagogischer Maßnahmen zurück. Müller hingegen macht auf die demografische Entwicklung aufmerksam. Seit 2003 nimmt die Bevölkerung in Deutschland kontinuierlich ab. Es sterben mehr Menschen als geboren werden, die Deutschen werden älter. Und weniger Jugendliche verüben weniger Straftaten. Müller hat noch eine zweite Erklärung für den Rückgang: „Jugendrichter greifen heute härter durch als die Post-68er und verhindern so neue Intensivtäterkarrieren.“
Verzerrte Sichtweise?
Im Polizeibericht heißt es zur Jugendkriminalität: „Ob dieser Rückgang der Fallzahlen im Hellfeld der Kriminalität eine Trendwende im Hinblick auf eine gesunkene Gewaltbereitschaft Jugendlicher indiziert, kann nicht abschließend beurteilt werden.“ Die Reporterin rief beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden an und bat um die Interpretation der Zahlen eines unabhängigen Experten. Sie wurde an das KFN und Herrn Pfeiffer verwiesen. Dessen Meinung dazu ist bekannt: Die höheren Zahlen der Gewaltkriminalität seien auf die gestiegene Anzeigebereitschaft der Opfer zurückzuführen. Brutale Einzelfälle von Jugendkriminalität habe es immer gegeben, fänden heute nur mehr Beachtung. Lediglich in Problembezirken steige die Gewaltkriminalität. Arrest aber sei keine hilfreiche Maßnahme, sondern ruiniere den sozialen Ruf und berge die Gefahr neuer krimineller Kontakte.
Heisig, schreibt Pfeiffer in einem Beitrag für das Magazin der „Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen“, habe unter einer verzerrten Sichtweise und einem Burnout-Effekt gelitten. Müller wird wütend, wenn man ihn darauf anspricht. „Heisig hat die Dinge absolut klar gesehen. Wir können heute auf gewalttätige Jugendgruppen nicht mehr mit Kuschelpädagogik reagieren und müssen bisweilen auch Gefängnisstrafen verhängen. Wir brauchen einen Warnschussarrest und eine absolute Beschleunigung der Verfahren.“ Abgesehen davon hält er es für vermessen, den Freitod Heisigs als Begründung für ihre angebliche Fehleinschätzung heranzuziehen. Kirsten Heisig hatte Pfeiffers zaghaften Ansatz in ihrem Buch hart kritisiert.
Was Jugendliche beeindruckt, ist eine schnelle Reaktion – das ist letztlich Konsens aller. Doch die Gerichtsverhandlungen finden oft erst ein halbes Jahr nach der Tat statt. Heisig zog gegen diesen zentralen Fehler im System zu Felde. In einem zähen, über mehrere Jahre andauernden Kampf für die Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht sorgte sie für die Einführung des sogenannten Neuköllner Modells. Es soll ein Warnschuss sein für Jugendliche, die leichte Delikte begangen haben: Sachbeschädigung, Ladendiebstahl, einfache Körperverletzung oder eine Verkehrsstraftat. Der Polizeiabschnitt kann die Akte mit der Beweislage rasch per Boten zum Staatsanwalt schicken. Dieser leitet sie an Jugendrichter weiter, die zügig einen Prozess ansetzen. Die Jugendrichter können dann Weisungen erteilen oder Jugendarrest bis zu vier Wochen verhängen – wenige Tage nach der Tat. „Heisig hat mit ihrem Neuköllner Modell und den verkürzten Jugendstrafverfahren etwas in Gang gesetzt, was seit Jahrzehnten hätte gemacht werden müssen“, sagt Müller. „Normalerweise wäre das die Aufgabe der politisch Verantwortlichen: der Innen- und Justizminister von Bund und Ländern, der Polizeipräsidenten, der Leitenden Oberstaatsanwälte“, kritisiert Müller.
Neukölln in Bayern
Nach Heisigs Vorarbeit schließlich willigte die Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) ein, das Modell auf ganz Berlin auszuweiten. Die Verfahrensdauer ist in der Hauptstadt seitdem deutlich gesunken. Neu eingereichte Verfahren dauerten in diesem Jahr durchschnittlich etwa zwei Monate. Fragt man beim Senat nach, bekommt man diese Zahl. In Wirklichkeit muss man jedoch die alten Verfahren hinzuzählen, die unter Umständen seit mehreren Jahren auf den Schreibtischen liegen. Dann erhält man für 2009 eine durchschnittliche Verfahrensdauer von 3,8 Monaten – ein weniger schmeichelhaftes Ergebnis. Zudem liegen die Akten bei allen regulären Jugendverfahren vor Beginn der Verhandlung erst mehrere Monate bei der Polizei und anschließend wieder mehrere Monate bei der Staatsanwaltschaft.
Ein beherztes Eintreten für schnellere Jugendverfahren steht bei Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) nicht auf der Liste für das neue Jahr. Im Justizministerium zeigt man sich beim Thema ambivalent. Eine Verfechterin hingegen haben Heisig und Müller in der bayerischen Justizministerin Beate Merk (CSU) gefunden. Im Freistaat wurden in den vergangenen Jahren mehr als 13 Prozent der Jugendverfahren auf die vereinfachte Art erledigt – Tendenz steigend. Seit Juni 2010 wird Heisigs Modell in Bamberg erprobt. Hat es Erfolg, soll es ausgedehnt werden. Neukölln in Bayern. Das hätte Heisig gefallen.
*Name von der Redaktion geändert