Wegen der steigenden Zahl älterer Menschen wird es in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten deutlich mehr Pflegefälle geben als heute. Nach Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden wird die Zahl der Pflegebedürftigen durch den absehbaren demografischen Wandel von heute 2,2 Millionen bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent auf 3,4 Millionen steigen. Bis zum Jahr 2050 könnte sich ihre Zahl sogar auf 4,5 Millionen verdoppeln.
„Ursache für diese Zunahme ist die steigende Zahl älterer Menschen“, schreiben die Statistiker. So werde die Zahl der 80-Jährigen und Älteren bis 2030 von 4,1 Millionen auf voraussichtlich 6,4 Millionen zunehmen. 2050 könnte diese Altersgruppe dann 10,2 Millionen Menschen umfassen. Der Anteil dieser Hochbetagten an den Pflegebedürftigen dürfte von heute 54 Prozent auf 65 Prozent im Jahr 2030 und 78 Prozent im Jahr 2050 steigen. Die Statistiker erklärten, bei dieser Modellrechnung werde unterstellt, dass die altersspezifischen Pflegequoten in der Zukunft identisch mit denen von heute sind. Es könne jedoch sein, dass sich das Pflegerisiko mit der steigenden Lebenserwartung in ein höheres Alter verschiebt. Dann würde sich die Zahl der Pflegebedürftigen weniger dramatisch stark auf drei Millionen im Jahr 2030 beziehungsweise auf 3,8 Millionen 2050 erhöhen.
Wirtschaft macht Druck
Am stärksten dürfte die Zunahme der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 in Brandenburg (plus 72 Prozent), Berlin (66 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (63 Prozent) sein. Niedrige Steigerungsraten um 35 Prozent weisen langfristig Bremen, Hamburg sowie das Saarland auf. Die neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes unterstreichen den Reformbedarf in der gesetzlichen Pflegeversicherung. Vor allem die Wirtschaft macht Druck. DIHK-Präsident Hans Heinrich Driftmann sagte Morgenpost Online:
„Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland wird stark steigen und damit der Druck, endlich eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung hinzubekommen.“ Wenn die Pflegeversicherung ihren Auftrag künftig noch erfüllen solle, müsse sie unbedingt auf ein stabiles Fundament gestellt werden, ohne Arbeitsplätze und Erwerbstätige über die Maße zu belasten, forderte Driftmann. Dazu gehöre die Abkopplung der Beiträge von den Löhnen und der Einstieg in die Kapitaldeckung, um den Arbeitsmarkt nicht mit immer höheren Kosten zu belasten.
Erstes Treffen zur Pflegereform
Für Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) steht die Reform der Pflege für 2011 ganz oben auf der politischen Agenda: „Die jungen Menschen müssen heute anfangen, an morgen zu denken und finanziell vorzusorgen.“ Wer jetzt in die Pflegeversicherung einzahle, spare das Geld nicht für sich selbst an, sondern zahle für die Generation, die jetzt Leistungen in Anspruch nehme. Rösler will deshalb die umlagenfinanzierte Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte Zusatzversicherung ergänzen – ähnlich wie die Riester-Rente zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung. Am 7. Dezember will der Minister erstmals mit Fachleuten und Verbandsvertretern aus dem Pflegebereich über die Reform beraten.
Seit 2008 liegt der Beitrag zur Pflegeversicherung bei 1,95 Prozent des Bruttoeinkommens. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen ihn zu gleichen Teilen. Versicherte ohne Kinder zahlen 2,2 Prozent. Im Koalitionsvertrag von Union und FDP ist eine Ergänzung der Pflegeversicherung durch einen neuen Kapitalstock vorgesehen. Er soll „verpflichtend, individualisiert und generationengerecht ausgestaltet“ sein.
"Wildsäue“ und "Gurkentruppe“
Wie der „Pflege-Riester“ genau aussehen soll, darüber hat das Feilschen in der schwarz-gelben Koalition bereits begonnen. Als Rösler seine Gesundheitsreform in Angriff nahm, war der Streit über die Einführung einer einkommensunabhängigen Gesundheitspauschale derart eskaliert, dass sich die Koalitionäre gegenseitig als „Wildsäue“ und „Gurkentruppe“ beschimpften. Ähnliches Konfliktpotenzial birgt auch die Pflegereform. So versichern die Koalitionäre unisono, die Lohnnebenkosten sollten stabil gehalten werden.
Dafür müsste eigentlich der Arbeitgeberbeitrag eingefroren werden – die Beitragszahler müssten dann mit der Zusatzversicherung die Kosten allein abdecken. Doch so offen mag dies niemand in der Koalition sagen. „Wie konkret sich die Lasten verteilen, werde noch zu entscheiden sein, sagte der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn der „Frankfurter Rundschau“. Zugleich stimmte er die Bürger auf steigende Kosten für die Pflege ein. „Die einfache Wahrheit ist, dass auch bei der Pflege die Kosten in den nächsten Jahren steigen werden“, sagte der CDU-Politiker.
"Keine Verteuerung der Arbeitskosten"
Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsbundestagsfraktion, Johannes Singhammer (CSU), erwartet „sehr, sehr schwierige Verhandlungen“ mit den Koalitionspartnern CDU und FDP. „Es darf keine unverantwortlich hohe Belastung der Menschen mit kleinem Geldbeutel geben“, sagte Singhammer Morgenpost Online ONLINE. Gleichzeitig dürfe es durch die Pflegereform „keine weitere Verteuerung der Arbeitskosten“ geben. Ob dafür der Arbeitgeberbeitrag wie in der gesetzlichen Krankenversicherung eingefroren werden soll, sei noch nicht klar.
Nach Berechnungen von Experten müsste der Pflege-Riester 15 Euro im Monat betragen, wenn der Pflegebeitrag bis 2030 stabil gehalten werden soll. Am stärksten betroffen seien Geringverdiener. Die SPD lehnt den geplanten Umbau der Pflegeversicherung ab. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles warf der Regierung vor, die Arbeitgeber aus der Verantwortung entlassen zu wollen und Kostensteigerungen allein auf die Arbeitnehmer abzuwälzen: „Nach der Gesundheitsreform soll nun in der nächsten Sozialversicherung die Solidarität aufgekündigt werden.“