Nach den Landtagswahlen

Was Renate Künast von Winfried Kretschmann lernt

| Lesedauer: 9 Minuten
Jens Anker und Christine Richter
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Künast sieht sich für Berlin-Wahl gestärkt

Die Grünen feiern Wahlerfolge und Winfried Kretschmann als wahrscheinlichen neuen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg.

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Was Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg geschafft hat, soll Renate Künast in Berlin gelingen. Morgenpost Online sprach mit der Fraktionschefin im Bundestag und grünen Spitzenkandidatin über die Folgen des Erfolges für die Wahl in Berlin.

Morgenpost Online: Frau Künast, bedauern Sie, dass in Berlin nicht bereits an diesem Wochenende gewählt wurde?

Renate Künast: Ach nein, wir wählen am 18. September, und das ist okay so.

Morgenpost Online: Ist der Sieg für die Grünen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein Aufbruch oder eine Bestätigung für Ihre Politik?

Renate Künast: Er ist eine Bestätigung für meinen Kurs, der in die Mitte der Bevölkerung geht. Wir haben ja seit Langem Debatten darüber geführt, was grün ist, angesichts der Tatsache, dass wir größer geworden sind. Wir haben längst gelernt, dass es für die Grünen nicht nur um Ökologie und eine kleine ökologische Wirtschaftsnische geht, sondern dass wir Umweltpolitik mit Wirtschaft verbinden – und zwar in allen Bereichen. Wir wollen die erneuerbaren Technologien ausbauen, die Umwelt schonen, aber auch neue Arbeitsplätze schaffen. Das alles gehört zusammen. Deshalb wundert sich heute niemand, dass wir mit Winfried Kretschmann jemanden haben, der in Baden-Württemberg regieren kann, und zwar mit Maß und Mitte – aber auch mit grünen Zielen.

Morgenpost Online: Erwarten Sie sich durch den Wahlsieg in Baden-Württemberg Rückenwind auch für Ihren Wahlkampf?

Renate Künast: Ja, die Wähler trauen den Grünen zu, die Rolle des Ministerpräsidenten zu übernehmen. Berlin und Baden-Württemberg haben dabei etwas gemeinsam. Wir haben uns der Aufgabe gestellt, eine Stadt für alle zu bauen. Ich habe mit unseren Themen Bildung, Arbeit und Klima an den Alltagssorgen der Menschen angeknüpft, und wir fangen unseren Wahlkampf nicht da an, wo wir ihn noch vor zehn Jahren angefangen hätten.

Morgenpost Online: Aber es hat in Baden-Württemberg eine zugespitzte Lage mit dem Streit über Stuttgart 21, den Rückkauf des Atomkonzerns EnBW und den aktuellen Atomstreit gebraucht, um dieses gute Ergebnis für die Grünen zu erreichen. Das ist doch mit Berlin nicht zu vergleichen.

Renate Künast: Ich sehe die Chance, dass auch die Berlinerinnen und Berliner sagen: „Wir wollen einen neuen Anfang.“ In Berlin regiert die SPD seit 22 Jahren mit, auch die CDU war viele Jahre an der Macht. Jetzt haben wir einen rot-roten Senat, der uns alles Schöne für die kommenden Jahre, für 2012 bis 2014 verspricht. Aber dafür hatten SPD und Linke doch zehn Jahre Zeit, sie regieren doch seit 2002 zusammen. Ich glaube schon, dass eine solide Stimmung entsteht, in der die Menschen sagen: „Wir wollen etwas anderes. Und wir trauen das den Grünen zu.“ Wir Grünen werden nämlich anpacken, nicht nur ankündigen.

Morgenpost Online: Es gibt aber heute schon Menschen, die sagen, der Sieg in Baden-Württemberg macht einen Grünen-Sieg in Berlin eher unwahrscheinlich, weil die Grünen bis dahin entzaubert sind. Richtig?

Renate Künast: Nein, Winfried Kretschmann befindet sich voll in der Wirklichkeit. Niemand hat wie er klar gesagt, dass es harte Zeiten geben wird, weil der Haushalt saniert werden muss und man nicht auf Kosten der Kinder leben darf. Er wird alles rechtlich Mögliche unternehmen, um Stuttgart 21 zu verhindern. Es ist genau die Klarheit, ohne Drumherum zu reden, die sich bewähren wird. Grünes Regieren wird richtig wohltuend sein, weil wir kein X für ein U vormachen.

Morgenpost Online: In Baden-Württemberg gab es aber eine starke Wechselstimmung. Davon ist in Berlin doch nichts zu spüren?

Renate Künast: Wer will denn noch den verbrauchten rot-roten Senat haben? Viele haben schon jetzt das Gefühl, dass sich in Berlin etwas ändern muss. Die Menschen sind sehr frustriert darüber, wie der Senat beim Großflughafen BBI vorgeht. Erst die Bürger haben mit ihrem Protest dafür gesorgt, dass die Flugrouten neu diskutiert werden. Das Thema Schule und Bildung ist in Berlin ein ewiges Aufregerthema, weil es an Qualität mangelt. Bei den Kitas gab es bereits ein Volksbegehren. Und beim Thema Wasser mussten die Berliner sogar erst abstimmen gehen, damit der Senat endlich die Privatisierungsverträge offenlegt. Außerdem sagen die Unternehmen in Berlin seit Langem, Berlin kann mehr und wartet auf einen systematischen Politikwechsel. Es gibt eine Bereitschaft und ein Interesse an einem Regierungswechsel.

Morgenpost Online: Wie wollen Sie das stärker ins Bewusstsein der Menschen bringen?

Renate Künast: Im Augenblick ist der Dauerkonflikt zwischen Rot-Rot so schön und entlarvend, dass man da gar nicht stören möchte. Aber das kann sich Berlin nicht weiter leisten. Ich will diese Lähmung, die man in Berlin spürt, aufbrechen. Berlin bricht auf – auch das ist unser Motto. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz war klar, dass es eine rot-grüne Regierung beziehungsweise eine grün-rote geben wird.

Morgenpost Online: Wollen auch Sie mit der SPD koalieren?

Renate Künast: Makaber ist ja, dass Winfried Kretschmann schon vor einiger Zeit angefangen hatte, ein schwarz-grünes Bündnis auszuloten. Er wollte mehr Offenheit – auch für die Grünen. Die CDU mit Stefan Mappus hat es aber derartig versemmelt mit dem rabiaten Vorgehen gegen die eigenen Bürger und mit mehreren Zickzackkursen, dass das keine Option mehr war. Ich sage ganz klar, wir wollen stärkste Partei in Berlin werden und den Senat führen. Die größte Schnittmenge gibt es mit der SPD, aber wir treten ja an, uns mit der ganzen Stadt auf den Weg zu machen. Ich schließe also keine Koalition aus.

Morgenpost Online: Sind die Grünen schon eine Volkspartei?

Renate Künast: Die Interessen des ganzen Landes vertreten, das tun wir bereits. Man muss klar die grünen Ziele vor Augen haben und dann Schritt für Schritt den Reformweg gehen. Schon beim Thema Arbeitsplätze sehen Sie, dass es einer allein nicht kann. Eine Stadt für alle heißt, die Bereitschaft der Investoren und die Kreativen zusammenzubringen. Das Wort Volkspartei scheue ich, weil das für den alten Weg steht, jedem Bevölkerungsteil nach dem Munde zu reden. Diese Zeit ist vorbei. Ich stehe für Klarheit und Wahrheit.

Morgenpost Online: Und die lautet?

Renate Künast: Die Klarheit sagt, dass es die nächste Regierung in Berlin finanziell nicht leicht haben wird. Wir müssen horrende Summen einsparen und gemeinsam Schwerpunkte setzen. Das heißt: Wir setzen alles auf Bildung, wo nicht gespart wird, und Zukunftsschwerpunkte in der Wirtschaft – von Klimastadtwerk bis ICC-Sanierung.

Morgenpost Online: Wenn ich keine Kinder habe und im öffentlichen Dienst arbeite, sprechen mich die Grünen dann nicht an?

Renate Künast: Doch, das wird Sie brennend interessieren, weil Sie älter werden und an qualifiziertem Personal interessiert sind. Und weil Sie vielleicht ein E-Mobility-Ticket kaufen wollen und damit durch die Gegend fahren können. Sie möchten grüne Stadtteile haben, in denen Sie auch im hohen Alter noch leben können, weil die Wohnungen energetisch saniert sind und Sie mit dem Rollator bequem in die Wohnung kommen.

Morgenpost Online: Wird Herr Kretschmann Sie im Wahlkampf unterstützen?

Renate Künast: Ja, aber jetzt soll er erst einmal ein paar Tage den Wahlsieg genießen und die Verhandlungen beginnen. Ich habe Winfried Kretschmann schon in seinem Wahlkampf unterstützt, und er wird uns ganz sicher in Berlin helfen. Nicht nur einmal.

Morgenpost Online: Ein großer Teil des Stimmungszuwachses stammte in Baden-Württemberg aus dem Lager der Nicht- und Neuwähler. Zielen Sie auch auf diese in Berlin ab?

Renate Künast: Ja. Es gibt das Angebot von uns, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, für gute Bildung und neue Jobs. Es liegt in Berlin so viel brach, da können wir sicherlich auch frustrierte Wähler abholen.

Morgenpost Online: Der Wahlkampf nimmt an Fahrt auf. Werden Sie sich ganz auf Berlin konzentrieren und die Bundespolitik ruhen lassen?

Renate Künast: Als Berliner Bundestagsabgeordnete war ich nie weg. Es wird schon jetzt Woche für Woche, Tag für Tag mehr Berliner Landespolitik. Bis ich dann ganz da bin.