Eine „Runde der Vernunft“ hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Blick auf die Hartz-IV-Verhandlungen ausgerufen, die in dieser Woche zwischen Opposition und Regierung fortgesetzt werden. Eine Runde der Vernunft? Noch scheinen das nicht alle Protagonisten mitbekommen zu haben. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und ihre Gegenspielerin Manuela Schwesig (SPD) machten am Sonntagabend in der Talkshow „Anne Will“ vor laufender Fernsehkamera weiter wie bisher:
Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und Blockadevorwürfen, mit Konfrontation statt Konsens. „Total zynisch“ nannte Schwesig die Ministerin, mit der sie sieben Wochen erfolglos über Hartz IV verhandelt hatte, und empfahl ihr „ein bisschen Demut“. Von der Leyen warf ihrer Kollegin aus Mecklenburg-Vorpommern wiederum „puren Populismus“ vor, schlug aber auch versöhnliche Töne an: „Es hat uns beiden wehgetan, dass wir den Sack in dieser Woche nicht zumachen konnten.“
Jahrzehntelange Verhandlungserfahrung
Das soll nun, wie beide Politikerinnen versichern, in dieser Woche nachgeholt werden. „Ich bin mir sicher, dass wir es in dieser Woche zu einem Ergebnis bringen werden“, sagt Schwesig. Doch Schwesig und von der Leyen werden dabei nicht mehr die Hauptrollen spielen. „Der Ball liegt nun im Bundesrat“, gibt von der Leyen freimütig zu. Genau genommen bei den Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD), Wolfgang Böhmer (CDU) und Horst Seehofer (CSU). Die drei Landesfürsten aus Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Bayern gelten allesamt als alte Hasen.
Sie blicken auf jahrzehntelange Verhandlungserfahrung zurück. Beck und Böhmer sind unter den 16 Ministerpräsidenten die vielleicht letzten beiden traditionellen Landesväter. Ihre hervorstechenden Eigenschaften: Wille zum Konsens, Kraft zur Integration, Misstrauen gegenüber Ideologie. Dazu kommt die Fähigkeit, Menschen auch außerhalb ihrer Parteien für sich einzunehmen. Beck und Böhmer, die beiden Vollblutprofis aus Mainz und Magdeburg, wollen nicht nur einen Konsens herbeiführen. Sie haben vor allem ein Anliegen: das Vertrauen der Bürger in die Politik wiederherzustellen.
Beck ist 61 Jahre alt, er ist der am längsten amtierende Regierungschef eines Bundeslandes – und der einzige, der noch über eine absolute Mehrheit verfügt. In knapp sechs Wochen steht Beck eine Landtagswahl ins Haus. Da machen sich zwischen Eifel, Westerwald und Hunsrück eine bundespolitische Präsenz und die glaubhafte Suche nach einem Kompromiss zu einem wichtigen Thema gut. Beck ist Machtpolitiker genug, diese Chance zu sehen und zu nutzen. Böhmer ist 75 Jahre alt, er regiert seit acht Jahren in Magdeburg und hat Sachsen-Anhalt in dieser Zeit so etwas wie ein regionales Bewusstsein gegeben. Der Chefarzt a.D. hat in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass ihm das Auskosten kleinster parteitaktischer Vorteile ein Graus ist.
Siegeszug der alten Männer
Böhmer lebt vom Image, das große Ganze zu pflegen – sein Regierungsbündnis mit der SPD gilt als Kuschelkoalition. Bei der Landtagswahl in fünf Wochen tritt er nicht mehr an. Schließlich Seehofer, der schon am vergangenen Freitag im Bundesrat mehr vom Zwang sprach, sich zusammenzuraufen, und mehr für ein „Grundvertrauen“ beider Seiten warb, als die Position der schwarz-gelben Regierung darzustellen. Seehofer (60) ist gerade einmal gut zwei Jahre lang bayerischer Ministerpräsident. Als über den Parteien stehender Landesvater gilt Seehofer nicht.
Er ist in erster Linie Wahrer bayerischer Interessen und solcher der CSU – der kleinsten der drei Koalitionsparteien. Seehofer beäugt Merkel und von der Leyen seit jeher mit Skepsis, Scheinheiligkeit und Lust an der Intrige inbegriffen. Der Siegeszug der alten Männer ist für die Verhandlungsführerinnen von der Leyen (52) und Schwesig (36) bitter. Sie seien „zwei Verliererinnen“, hielt der Politberater Michael Spreng den beiden ausgebooteten Verhandlungsführerinnen bei „Anne Will“ vor, die die Politikverdrossenheit in Deutschland befördert und darüber hinaus auch noch der „Sache der Frauen“ geschadet hätten.
Zügige Einigung
Da lächelten beide nur gequält. In der Hartz-IV-Debatte war Schwesig, die junge Ministerin aus Ostdeutschland, das Gesicht der SPD. Die erste Reihe von Partei und Fraktion hingegen hielt sich zurück. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und der sonst nie um eine Kommentierung verlegene Parteivorsitzende Sigmar Gabriel ließen Schwesig stets den Vortritt. Doch schon am Mittwoch, nach dem Scheitern der Verhandlungen, spielte Schwesig nur noch die dritte Geige. Während eines gemeinsamen Statements im Reichstagsgebäude vor zahlreichen Reportern, Kameras und Mikrofonen sprach erst Steinmeier. Dann setzte Gabriel zu einer langatmigen Rede an. Frau Schwesig blieben danach nur noch wenige Worte. Nun also Beck statt Schwesig, Beck, der umgehend ankündigte, man wolle die Verhandlungsführung nun „auf der Ebene der Ministerpräsidenten“ halten, um eine zügige Einigung zu finden.
Auch Ursula von der Leyen war schon am vorigen Mittwoch nicht mehr Herrin des Hartz-Verfahrens. Da hatte Kanzlerin Merkel längst die harte Linie festgelegt, die ihre Arbeitsministerin exekutieren musste. „Die haben gar nicht mehr verhandelt, die wollten das Scheitern“, hieß es danach in der SPD. Schon bei der Debatte über die Frauenquote hatte die Kanzlerin ihre populäre Ministerin mit einem Machtwort gestoppt. Und während sich Schwesig und von der Leyen am vergangenen Freitag im Bundesrat noch mit Vorwürfen beharkten, da hatten die alten Männer mit dem Segen des Kanzleramts längst schon die Kompromisssuche eingefädelt.
"Einen Korridor ausloten"
„Korridor“ – so lautet das Wort dieser Woche. Einen „Korridor ausloten“, so heißt es, sei die Aufgabe von Beck, Böhmer und Seehofer. Schon am Dienstag soll in vertraulicher Runde damit begonnen werden. Die Detailarbeit dürfen dann anschließend die Ministerinnen machen. Formal bleibt Schwesig Verhandlungsführerin. Und auch von der Leyens Sprecher betont, seine Ministerin sei in die Gespräche „eingebunden“. Union und FDP würden am liebsten nur noch über „Sonderbedarfe“ zum Regelsatz verhandeln, etwa über Geld für Monatskarten. Diesen Vorschlag hatten sie bereits am Mittwoch in den Verhandlungen auf den Tisch gelegt. SPD und Grüne pochen dagegen auf Verhandlungen „ohne alle Tabus“: Vom Regelsatz über die Zeitarbeit bis zu Mindestlöhnen.
Doch selbst bei einer schnellen Einigung werden die höheren Regelsätze voraussichtlich erst zum 1. April ausgezahlt. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) benötigt bis Donnerstag Klarheit, wenn sie höhere Beträge für März überweisen soll. Die Regierung prüft nun, ob die Erhöhung des Arbeitslosengeldes zumindest um fünf Euro auch ohne Gesetzesgrundlage ausgezahlt werden kann. Bisher hatte von der Leyen dies unter Verweis auf juristische Bedenken abgelehnt. Mittlerweile drängen aber nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch der Koalitionspartner FDP auf eine vorzeitige Auszahlung. Geprüft wird, ob die zweimalige Verabschiedung der Erhöhung durch den Bundestag und die Nichtablehnung im Bundesrat „eine neue juristische Bewertung“ rechtfertigt.
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