Konflikt

Eine radikale Türkei dreht Europa den Rücken zu

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S. Bolzen, B. Kalnoky, C. Schiltz

Foto: picture alliance / dpa / dpa

Ankara wendet sich immer mehr vom Westen ab. Die EU sucht bis Jahresende nach neuen Anreizen für den Bosporusstaat.

Hinter den Kulissen in Brüssel wird intensiv an einer neuen Türkei-Strategie gearbeitet. In der Europäischen Union wächst die Sorge, dass sich Ankara immer weiter vom Westen abwendet und enge Bündnisse mit Staaten im Nahen Osten, aber auch radikalen islamischen Gruppen sucht.

„Spätestens zum Türkei-Gipfel Ende des Jahres müssen wir dem Land neue und glaubhafte Angebote machen. Beispielsweise durch Öffnung von Kapiteln in den Beitrittsverhandlungen, die den Türken wichtig sind“, sagt ein ranghoher EU-Diplomat, der an den Verhandlungen beteiligt ist. Die Türkei sei ein wichtiger internationaler Spieler, „und das muss in der Politik des Westens auch zum Ausdruck gebracht werden“. Teil der neuen Strategie könnten Visa-Freiheit oder eine diplomatische Aufwertung sein.

Jüngster Auslöser für die Verschlechterung der Beziehungen ist Israels blutiger Militäreinsatz gegen die Gaza-„Solidaritätsflotte“ am 31. Mai, bei dem neun türkische Staatsbürger getötet wurden. „Vorher haben wir nie Partei ergriffen. Aber dieser Tag hat alles verändert“, sagt der türkische EU-Chefunterhändler Egemen Bagis. Von nun an werde sich die Türkei nicht mehr dem europäischen Junktim einer ausbalancierten Politik gegenüber Israelis und Palästinensern unterordnen.

Das Verhältnis zwischen Türken und Israelis ist seit Dezember 2008 gespannt, als Israel die Hamas mit Raketen beschoss. Israels damaliger Premier Ehud Olmert hatte seinen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan nicht über die Offensive informiert, obwohl Ankara sich gerade vor einem Durchbruch bei indirekten Friedensgesprächen zwischen Israel und Syrien wähnte.

Vor wenigen Tagen schloss die Türkei zudem ein Abkommen mit Jordan, Syrien und Libanon zur Schaffung einer Freihandelszone. Der türkischen Außenminister Ahmet Davutoglu sagte, dies sei nur der erste Schritt zur Verwirklichung einer größeren Vision: einem gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitsraum vom Schwarzen Meer bis zum Äquator. Auf die Frage, ob das nicht in Widerspruch stünde zur angestrebten geplanten EU-Mitgliedschaft, sagte der Diplomat, das eine habe nicht mit dem anderen zu tun.

Davutoglu hat in der Vergangenheit seine Strategie mit den Worten umrissen, erst wenn die Türkei zur einflussreichsten Macht im Nahen Osten geworden sei, werde Europa einsehen, dass es die Türkei brauche. Der Weg in die EU führe daher über eine Ausweitung des türkischen Einflusses in der Region. Eine solche Strategie ist, so meinen Beobachter, am leichtesten mit einem radikaleren Kurs gegen Israel zu verwirklichen. Dies bringe der islamischen Welt Prestige.

Teil von Erdogans Doppelstrategie ist es auch, Verbindungen zu radikalen islamischen Gruppen zu vertiefen. Nachdem Ankara schon seit geraumer Zeit die palästinensische Hamas als demokratische Regierung des Gaza-Streifens lobt, soll Ministerpräsident Erdogan nun auch den libanesischen Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah eingeladen haben. Das berichtete der türkische Sender NTV mit dem Zusatz, Hamas-Chef Chalid Meschal habe Erdogan das Treffen vorgeschlagen, um seine Popularität in der islamischen Welt zu steigern und den Druck auf Israel zu erhöhen. Dem Bericht zufolge soll Nasrallah auf seiner Reise von iranischen Revolutionsgardisten geschützt werden.

Zur neuen Freihandelszone äußerte sich auch Islamistenführer Necmetttin Erbakan, dessen Organisation Milli Görüs Ende Mai den umstrittenen „Hilfskonvoi“ nach Gaza organisiert hatte. Erbakan sagte, es seien solche Aktionen, die die türkische Regierung dazu „zwängen“, ihren Kurs gegen Israel zu verschärfen. Er sagte, dass das Problem Israel „nicht durch Reden gelöst werden kann. Was werden wir tun? Wir werden die Union des Islams, die UN des Islams, die Nato des Islams gründen. Wir werden Israel mit einer gemeinsamen Armee der islamischen Welt und ihren 1,5 Milliarden Moslems da rausjagen.“

Solche radikalen Töne lösen in Brüssel Sorge aus. Die Einsicht, Ankara stärker einzubinden, wächst in der EU. „Der Dialog mit der Türkei muss auf eine neue Grundlage gestellt werden“, sagt Alexander Lambsdorff, FDP-Außenexperte im EU-Parlament.


"Wertlose" Untersuchung der Vorfälle?

Gleichzeitig macht Washington Druck: „Ich persönlich denke, wenn denn etwas dran sein sollte an der Idee, dass die Türkei sich nach Osten bewegt, dann tut sie das vor allem deshalb, weil sie gestoßen wurde von manchen in Europa, die sich weigern, der Türkei die organische Verbindung zum Westen zu gewähren, die sie verlangte“, so US-Verteidigungsminister Robert Gates.

Israel kündigte an, das gewaltsame Vorgehen seines Militärs gegen den Schiffskonvoi in eigener Regie zu untersuchen. Das Kabinett billigte einstimmig eine fünfköpfige Untersuchungskommission unter Beteiligung zweier ausländischer Vertreter. Die USA begrüßten das Vorgehen. Auch die EU signalisierte, dass sie mit der Untersuchung unter Leitung Israels einverstanden ist, solange ausländische Experten beteiligt sind.

Die Türkei bewertete eine solche Untersuchung als „wertlos“. Der Sondergesandte des Nahost-Quartetts, Tony Blair, erwartet „in den nächsten Tagen“ eine Grundsatzentscheidung über eine Lockerung der israelischen Blockade des Gaza-Streifens. Damit könnten künftig Nahrungsmittel, Elektrizität und alle Güter des täglichen Bedarfs nach Gaza geliefert werden, sagte Blair nach Gesprächen mit den EU-Außenministern.