Die Staatsposse, die am Samstag im Reichstag bei der Wahl des Bundespräsidenten dargeboten wurde, hätte schon gereicht, um Schlagzeilen zu machen.
Noch vor der offiziellen Bekanntgabe durch Bundestagspräsident Lammert gab es Blumen und Blaskapelle in der Bundesversammlung. Das war um 14 Uhr 10 und gleichzeitig der Startschuss für Gerüchte um Köhlers Wahlerfolg.
CDU/CSU und FDP zeigten heitere Mienen, während sich Struck tröstend zu Schwan stellte. Die nun vielzitierte Würde des Krönungsaktes eines deutschen Staatsoberhauptes lag am Boden.
Gelangweilt, gut informiert, ungeduldig – in vielen Ecken des Saals war das Ergebnis klar, aber die Verzögerung unverständlich.
"Leute, ihr könnt in Ruhe Fußball gucken. Wahlgang hat geklappt!" schrieb dann Julia Klöckner (CDU) via . Mit sieben Sekunden Unterschied twitterten Garrelt Duin (SPD) und Ulrich Kelber (SPD) das offene Geheimnis in die Welt, was andere Anwesende, die zuvor noch via twitter auf ihr Wahlgeheimnis verzichtet haben () scheinbar bewusst unterlassen haben.
Zwischen Blumenstrauß und Bundestagspräsident war die Nachricht aus der Bundesversammlung an insgesamt 1500 Follower gegangen – und von dort über einfache Retweets (=das erneute Versenden einer empfangenen Nachricht an die eigenen Follower) in die Welt.
Die ersten drei, die schneller als die ARD und alle anderen Medien Köhlers Sieg verkündeten, mussten sich in den letzten Tagen online und offline kritisieren lassen. Die spannende Frage brachte Volker Beck in einer regenmit Kelber und Duin auf den Punkt: "Was offline nicht ok ist, wird auch online nicht besser. Oder?"
Seit dem Wochenende ist viel über das Maß an verwerflichem Verhalten der Beteiligten diskutiert worden, wobei das Hauptaugenmerk auf den twitter-Delinquenten lag, während die Organisatoren um Herrn Lammert weniger kritisch bedacht wurden. Für den erfahrenen twitter-Nutzer ist der immer wieder auftretende Geschwindigkeitsvorsprung zwischen twitter und vielen Newstickern ein alter Hut. Dass tweets schneller als ein Erdbeben sind, wurde schon festgestellt. Tweets von Notlandungen auf New Yorker Flüssen haben auch die Runde gemacht.
Jetzt hat es also auch die deutsche Medienlandschaft direkt erleben dürfen. Aber bloß weil ein tweet schneller war als die ARD, sind weder der Absender noch das Medium schuld. Vielmehr sollten die Gegner der oft als unnahbar verschrieenen Politiker feiern, dass sie wirklich live dabei sein können. Die in die Kritik geratenen Abgeordneten sind durchaus affine und aktive twitter-Nutzer. Auf kann ihre generelle Online-Aktivität im oberen Mittelfeld aller wahlkämpfenden Politiker beobachtet werden.
Insofern lehrt uns diese breitgetretene Online-Posse, wie ein direkter Draht zu Politik und Politikern aussieht. Und ein wenig zeigt er uns auch, dass viele Medienvertreter mit einem leichten Exklusivitätsverlust nicht umzugehen wissen. Duin schrieb, er habe das Köhler-Ergebnis von einem Journalisten. Er habe es , als ihm schien, dass es sowieso alle wüssten.
Twitter kennt keine Sperrfrist und online ist wesentlich viraler als manche dachten. Wenn die Botschaft stimmt. Alle können für den Wahlkampf davon ausgehen, dass wir weitere solcher Momente erleben werden. Sicher stoßen in den nächsten Wochen noch mehr Kandidaten die Tür zur Online-Welt auf, legen sich digitale Profile zu und senden ihre Mischung aus Person und Position. Politik wird damit nahbar, greifbar – aber manchmal auch angreifbar.
Auch wenn das nicht zu Köhler passt: Der (leichte) Ruck, der da durch die Politiklandschaft geht, wird weniger Platz für Pomp und Protokoll haben – aber mehr Transparenz für Politik und Prozesse.