Nehmen wir mal für einen Moment an, Israel wäre ein Land wie jedes andere. Und nehmen wir weiter an, die Weltöffentlichkeit hätte in den Tagen nach den tödlichen Vorfällen auf einem Schiff der Blockadebrecher-Flotte nach Gaza einen fairen Blick auf die Ereignisse geworfen. Dann wäre die Regierung in Jerusalem sicher auch in die Kritik geraten. Man hätte gefragt, ob die Mittel verhältnismäßig waren, ob man israelische Soldaten wirklich in Lebensgefahr bringen musste und ob Israel die Blockade nicht so ausgestalten könnte, dass mehr als nur das Lebensnotwendige in den Gazastreifen gelassen wird.
Die Welt hätte das aber abgewogen gegen Israels Sicherheitsbedürfnisse, hätte darauf hingewiesen, dass die Gaza-Flottille von radikalen Islamisten instrumentalisiert wurde, denen ebenso wie der Hamas an der Zerstörung Israels gelegen ist und die freie Fahrt auf Gaza erreichen wollen, damit die Hamas in Zukunft einfacher Waffen aus dem Iran bekommt. Und man hätte auch nicht mit Kritik an der türkischen Regierung gespart, die die Gaza-Flotte als nationales Projekt adoptiert hatte.
Erdogan ist wichtigster Fürsprecher der Hamas
So wäre in den Blick gerückt, dass Premier Recep Tayyip Erdogan inzwischen zu einem der wichtigsten Fürsprecher der terroristischen Hamas geworden ist. Man hätte nach den Beziehungen von Erdogans AKP zum Flottillen-Organisator IHH gefragt, die mindestens bis Ende der 90er-Jahre Dschihadisten unterstützt hat; die aus dunklen Quellen, auch iranischen, finanziert wird und deren Kopf keinen Hehl macht aus seinem imperialistischen muslimischen Programm, das die „Eroberung“ Israels einschließt.
Man hätte die Hinwendung Erdogans zum Iran kritisiert, dessen Präsident er als „besten Freund“ bezeichnet. Man hätte zwei Bundestagsabgeordnete zur Rechenschaft gezogen, die mit Extremisten gemeinsame Sache gemacht haben. Und man hätte gefragt, ob der Vorwurf der „Piraterie“ gegen Israel angesichts der Rechtslage nicht den Tatbestand der Hetzrede erfüllt.
Tatsächlich aber gab es heftige Kritik an Israel – und dann lange nichts. Das zeigt: Es ist eben doch kein Land wie jedes andere. Inzwischen scheint nicht einmal mehr ein normaler, ausgewogener Diskurs über Israel möglich. Die europäische Politik hat sich ausschließlich auf die Jerusalemer Regierung eingeschossen, und die Medien haben herzlich wenig getan, um das Narrativ des ersten Tages, wonach Israel auf machohafte Art überreagiert hat, zu hinterfragen. Und das, obwohl es inzwischen genug Informationen über die Angriffe radikaler Islamisten auf die israelischen Soldaten gibt; obwohl von den Aktivisten gemachte Fotos der übel zugerichteten israelischen Soldaten, die unter Deck verschleppt wurden, veröffentlicht wurden und auch die dunklen Seiten der IHH ausreichend belegt und auffindbar sind – zumindest für Journalisten, die danach suchen wollen.
Auf Fairness kann Israel nicht mehr zählen
Aber Fairness ist etwas, worauf Israel schon lange nicht mehr zählen kann – auch nicht im Westen. Es ist, als würde die freie Welt willentlich die Augen verschließen vor den Extremisten, die Israels Demokratie umzingelt haben, vor der Siegeszuversicht der Radikalen und der momentanen Friedensunfähigkeit der palästinensischen Seite.
Israel hat sich im Jahr 2000 aus dem Libanon zurückgezogen – und Angriffe der Hisbollah geerntet. Es hat 2005 den Gazastreifen geräumt – und Hamas und ihre Tausenden von Raketen und Granaten als Dank erhalten. Und in der Terrororganisation ist weiter keinerlei Bereitschaft zum Frieden erkennbar. Aber in westlichen Öffentlichkeiten ist der Eindruck weitverbreitet, alles hänge nur an den Israelis. Das ist absurd, ebenso wie die Leichtgläubigkeit, mit der man Propagandaaktionen wie der Gaza-Flottille auf den Leim geht. Selbst nach den Bildern von den brutalen Angriffen auf israelische Soldaten werden die Blockadebrecher weiter meist als Friedensaktivisten bezeichnet – ohne Anführungszeichen.
Israel ist in den Augen vieler Europäer längst zum bösen Buben geworden. Dabei gehen starke Meinungen über den jüdischen Staat oft einher mit dem Willen, es lieber nicht so genau wissen zu wollen. Denn dann wäre es ja um die beruhigende moralische Eindeutigkeit geschehen. Dazu kommt ein immer deutlicher zutage tretender Hang der Politik zu außenpolitischem Populismus. Wer den eigenen Bürgern in der Krise schmerzhafte Sparpakete verkaufen muss, haut dann gerne mal auf Israel drauf, weil das gut ankommt beim Publikum.
Israelverteidiger sucht man vergeblich
Der Automatismus, mit dem Israel sofort die schlechtesten Absichten unterstellt werden, ist atemberaubend und zuweilen böswillig. Ins Bild gehört auch, dass israelische Intellektuelle, die ihr Land scharf kritisieren – wie es sich für eine streitbare Demokratie gehört –, in europäischen Medien gerne als Kronzeugen gedruckt werden. Vehemente Israelverteidiger aus dem Heiligen Land oder aus Europa wird man in den meisten Zeitungen hingegen vergeblich suchen.
Diese verzerrende Einseitigkeit stellt inzwischen ein echtes Problem dar. Denn je weniger Israel mit fairer Behandlung rechnen kann, desto mehr igelt sich die israelische Gesellschaft ein im Gefühl der Unverstandenheit und desto eher neigt man in Jerusalem zur Überreaktion. Zumal die Israelis zu Recht darauf verweisen können, dass man ihnen erst zum Rückzug aus Libanon und Gaza geraten hat und nun nicht bereit ist, den negativen Folgen für Israels Sicherheit wirksam zu begegnen – was nicht gerade für weitere Rückzüge aus besetzten Gebieten spricht.
Die zunehmende Isolierung Jerusalems bestärkt radikale Israelfeinde, keine Kompromisse mit dem jüdischen Staat einzugehen. Sie setzen darauf, Israel durch stetige Delegitimierung und mit vielen Nadelstichen langfristig zu besiegen. Mehr Fairness für Israel ist also nicht allein ein Gebot des moralischen Anstandes. Es ist auch realpolitisch notwendig, wenn man die moderaten Kräfte in der Region stärken möchte, die vielleicht irgendwann zu einem Frieden bereit sind.